Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch
Autoren: Chico Buarque
Vom Netzwerk:
2
    Ich weiß nicht , warum Sie mir meine Schmerzen nicht lindern. Jeden Tag reißen Sie die Jalousie brutal hoch und lassen mir die Sonne ins Gesicht knallen. Ich weiß nicht, was an meinen Grimassen lustig ist, jedes Mal wenn ich niesen muss, geht mir ein Stechen durch und durch. Manchmal atme ich tief ein und fülle die Lunge mit unerträglicher Luft, um die Schmerzen zu vertreiben und für ein paar Sekunden Erleichterung zu spüren. Aber vielleicht war mein Leben schon lange, bevor ich alt und krank wurde, ein bisschen so, ein lästiger leiser Schmerz, der mich die ganze Zeit piesackt, und plötzlich ein brutaler Schlag. Als ich meine Frau verlor, das war brutal. Und ganz gleich, woran ich jetzt zurückdenke, alles tut weh, die Erinnerung ist eine große Wunde. Trotzdem geben Sie mir nichts dagegen, Sie sind ziemlich unmenschlich. Ich glaube, Sie sind gar nicht von der Station, Ihr Gesicht habe ich hier noch nie gesehen. Ach, natürlich, du bist meine Tochter, das lag am Gegenlicht, gib mir einen Kuss. Ich wollte dich auch schon anrufen, damit du mir Gesellschaft leistest, mir vorliest, aus der Zeitung oder russische Romane. Der Fernseher läuft den ganzen Tag, die Leute hier sind ungesellig. Ich beklage mich über nichts, das wäre auch undankbar, dir und deinem Sohn gegenüber. Aber wenn der Junge so reich ist, verstehe ich nicht, warum zum Teufel er mich nicht in einem traditionellen Krankenhaus unterbringt, bei den Nonnen. Für die Reise und Behandlung im Ausland hätte ich selbst aufkommen können, wenn dein Mann mich nicht ruiniert hätte. Ich hätte ins Ausland gehen, den Rest meines Lebens in Paris verbringen können. Wenn mir danach gewesen wäre, hätte ich im selben Bett sterben können, in dem ich als Kind im Ritz geschlafen habe. Denn dein Großvater, also mein Vater, hat mich immer in den Sommerferien auf einem Dampfer nach Europa mitgenommen. Später, wenn ich so einen Dampfer draußen auf dem Meer mit Kurs auf Argentinien fahren sah, habe ich immer deine Mutter gerufen und ihr gezeigt: Da fährt die
Arlanza
! Die
Cap Polonio
! Die
Lutetia
! Dann habe ich mächtig stolz erzählt, wie ein Überseedampfer von innen aussieht. Deine Mutter hatte noch nie ein Schiff aus der Nähe gesehen, seit unserer Hochzeit war sie kaum aus Copacabana rausgekommen. Aber als ich ankündigte, dass wir demnächst zum Kai fahren würden, um den französischen Ingenieur abzuholen, sträubte sie sich. Weil du erst vor kurzem auf die Welt gekommen seist und sie könne das Kind nicht zu Hause lassen und so weiter, aber gleich darauf nahm sie die Straßenbahn ins Zentrum und ließ sich einen Bubikopf schneiden. Als es so weit war, zog sie an, was ihrer Meinung nach dem guten Ton entsprach, ein orangefarbenes Satinkleid und einen Filzturban in noch kräftigerem Orange. Ich hatte angeregt, diese Eleganz für die Verabschiedung des Franzosen im nächsten Monat aufzubewahren, da würden wir zu einem Empfang an Bord gehen können. Aber sie war so aufgeregt, dass sie schon vor mir fertig war und an der Tür auf mich wartete. In den hochhackigen Schuhen sah sie aus, als stünde sie auf Zehenspitzen, im Gesicht war sie ganz rot oder sie hatte zu viel Rouge aufgelegt. Aber beim Anblick deiner Mutter in dieser Aufmachung sagte ich, du bleibst hier. Warum, fragte sie in schrillem Ton, ich gab ihr keine Antwort, griff nach meinem Hut und ging. Keinen Moment hielt ich inne, um zu überlegen, woher meine plötzliche Wut kam, ich spürte nur, dass die blinde Wut, die ihre Vorfreude in mir ausgelöst hatte, orangefarben war. Und jetzt höre ich auf zu reden, weil der Schmerz nur immer schlimmer wird.

5
    Die übliche Geschichte , man zerrt mich aus dem Bett, hebt mich auf eine Trage, keiner fragt, ob es mir unbequem ist. Ich bin noch gar nicht richtig wach, man hat mir nicht die Zähne geputzt, ich habe ein zerknautschtes Gesicht und bin nicht rasiert, und so erbärmlich, wie ich aussehe, schieben sie mich unter dem kalten Licht durch den Flur, das reinste Fegefeuer, wo jede Menge Krüppel auf dem Boden herumliegen, ganz zu schweigen von den Obdachlosen, die herkommen, um sich am Elend anderer zu weiden. Deshalb ziehe ich mir das Laken über mein einstmals schönes Gesicht, aber man zieht es mir gleich wieder weg, damit es nicht so aussieht, als wäre ich tot, weil das einen schlechten Eindruck macht oder weil es für einen Krankenträger beschämend ist, eine Leiche herumzufahren. Dann kommt der Fahrstuhl, wo mir alle ungeniert ins Gesicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher