Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch
Autoren: Chico Buarque
Vom Netzwerk:
Militärattaché, und protestierte lautstark, weil sich die Herausgabe des Gepäcks verzögerte. Es ist bekannt, dass manchen Leuten das Reisen nicht bekommt, so wie viele Weine keinen Transport vertragen, deshalb hielt ich es für klüger, ihn wortlos zum Palace Hotel zu bringen und ihn bis zum nächsten Tag in Ruhe zu lassen, damit er sich erholen konnte. Außerdem wollte ich schnell nach Hause, vielleicht würde meine Frau sich bei mir dafür bedanken, dass ich ihr einen unerfreulichen Ausflug erspart hatte. Schon im Hotelfoyer fand unser Mann das Palace scheußlich, dass es sich nicht mit dem Ritz in Paris messen konnte, stand ja außer Frage, aber es war das beste Hotel in der Avenida Central, und die Avenida wiederum missfiel ihm, weil sie sich europäisch gab. Dieser Dubosc, ich sag’s Ihnen, was aus dem geworden ist, weiß ich nicht, aber wenn er damals um die vierzig war, dann muss er nach meiner Berechnung seit über zwanzig Jahren tot sein. Ich wünsche ihm, dass er friedlich im Kreis der Seinen gestorben ist, aber an einem fulminanten Kollaps, damit er sich nicht so wie ich mit Schmerzen durchs Leben schleppen musste, so wie mir jetzt, wo ich mich wieder auf die Trage lege, die Knochen und die wundgelegenen Stellen schmerzen. Ich kann mir denken, wie er über die eisige Kälte hier im Raum und die stickige Hitze draußen geflucht hätte. Ich hoffe sogar, dass er niemals die stinkenden Fahrstühle betreten musste, nie gesehen hat, wie die Kakerlaken an den Wänden hochkrabbeln, niemals so einen Fraß wie in diesem Krankenhaus essen musste und bis zu seiner Todesstunde auch nicht ständig
merde alors
gesagt hat. Denn es ist wirklich alles Scheiße, aber abends, wenn meine liebe Freundin kommt, wird es etwas besser.

6
    Wenn ich hier rauskomme , fangen wir ein neues Leben an in einer alten Stadt, wo alle Leute sich grüßen, aber niemand uns kennt. Dann bringe ich Ihnen bei, wie man ordentlich spricht und wie man welches Besteck und welche Weingläser benutzt, ich werde Ihre Garderobe sorgfältig aussuchen und Ihnen gute Bücher zu lesen geben. Ich spüre, dass Sie das können, weil Sie sich Mühe geben, Sie haben sanfte Hände, verziehen auch nicht das Gesicht, wenn Sie mich waschen, kurz, ich glaube, Sie sind ein anständiges Mädchen, obwohl Sie aus einfachen Verhältnissen kommen. Meine andere Frau hatte eine strenge Erziehung genossen, trotzdem hat Mama nie verstanden, warum ich unter so vielen Mädchen aus guter Familie ausgerechnet sie gewählt habe. Meine Mutter war aus einem anderen Jahrhundert, einmal hat sie mich tatsächlich gefragt, ob Matilde nicht Körpergeruch hat. Nur weil Matilde fast braune Haut hatte, sie war die Dunkelste von sieben Schwestern, den Töchtern eines Abgeordneten aus derselben Partei wie mein Vater. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen jemals erzählt habe, dass ich Matilde schon im Vorbeigehen an der Kirchentür der Candelária gesehen hatte. Aber noch nie hatte ich sie so beobachten können wie an dem Tag in der Pause vor der Gabenbereitung. Sie gehörte zum Chor, der das Requiem sang, und das Kleid der Marienkongregation passte nicht zu ihr, es war wie ein Stück Stoff um sie herum, ohne Hautkontakt. Ein Kleid, so steif wie eine Rüstung, mit ihrem Körper hatte es nichts zu tun, ein nackter Körper hätte darunter tanzen können, und man hätte es nicht gemerkt. Es war die Trauerfeier für meinen Vater, trotzdem konnte ich mich nicht mehr von Matilde losreißen, ich versuchte, ihre intimsten Bewegungen und ihre so fernen Gedanken zu erraten. Von weitem sah ich, wie sie errötete, sah ihren Blick, der wie ein Pingpong-Ball hin und her ging, sah, dass sie ihr Lachen unterdrückte, während sie sang:
libera anima omnium fidelium defunctorum de poenis inferni
. Und es war wie ein Stromschlag, als Mama mich am Ellbogen berührte und mich aufforderte, zum Abendmahl zu gehen. Doch kaum hatte ich mich erhoben, ließ ich mich wieder auf die Betbank fallen, um einen Skandal zu vermeiden. Auf keinen Fall konnte ich mich in dem anstößigen Zustand, in dem ich mich befand, aufrecht gehend zeigen, und schon gar nicht neben meiner Mutter. Also hielt ich mir die Hände vors Gesicht, kaschierte meine Scham als Trauer und bemühte mich, an möglichst traurige Dinge zu denken, während Mama mich tröstete. Als es mir gelungen war, mich halbwegs aus der peinlichen Situation zu befreien, begleitete ich Mama mit gesenktem Kopf zum Altar und nahm das Abendmahl in dem Bewusstsein entgegen, dass ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher