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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch
Autoren: Chico Buarque
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sehen, statt den Blick auf den Fußboden, an die Decke, auf die Stockwerksanzeige zu richten, schließlich kostet es nichts, einen alten Kerl anzustarren. Oben kommt der nächste Flur mit vielen Ecken und Winkeln und Gejammer und Geschrei, und dann endlich der alte Raum für die Tomographie, keine Ahnung, wem der ganze Aufwand nützt. Ich bin schon ich weiß nicht wie oft geröntgt worden, man hat mich von oben bis unten untersucht, und wenn sie fertig sind, sagen sie kein Wort, noch nie hat man mir eine Aufnahme meiner Lunge gezeigt. Apropos, ich würde mir gern meine privaten Fotos ansehen, Sie, Doktor, Sie sehen so höflich aus, wenn es Ihnen nichts ausmacht, fahren Sie doch mal bei mir zu Hause vorbei. Lassen Sie sich von meiner Mutter den barocken Palisandersekretär zeigen, die mittlere Schublade quillt über von Fotos. Suchen Sie ordentlich und dann bringen Sie mir ein postkartengroßes Foto, auf der Rückseite steht von Hand geschrieben Januar 1929 , das Foto zeigt eine kleine Menschenansammlung am Kai im Hafen, im Hintergrund ein Schiff mit drei Schornsteinen. Von den Menschen sieht man nur die Kleidung von hinten und die Hüte, denn alle stehen der
Lutetia
in der Bucht zugewandt. Aber vergessen Sie nicht, mir auch die Lupe mitzubringen, die müsste in der kleinsten Schublade liegen, dann zeige ich Ihnen etwas. Wenn man ganz genau hinsieht, kann man auf dem Foto ein einziges Gesicht erkennen, das Gesicht von dem einzigen Mann, der zum Objektiv blickt, und dieser Mann in schwarzem Anzug und Melone, das kann ich Ihnen versichern, das bin ich. Eine stärkere Lupe zu besorgen hat keinen Sinn, bei zu starker Vergrößerung wird die Physiognomie verzerrt, man erkennt weder Mund noch Nase, noch Augen, das Ganze sieht dann aus wie eine Gummimaske mit dunklem Schnurrbart. Und selbst wenn das Bild scharf wäre, meine feinen Gesichtszüge mit knapp zweiundzwanzig Jahren kämen Ihnen womöglich weniger glaubwürdig vor als eine Gummimaske. Aber ich habe da gestanden, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie hypnotisiert alle diese Leute waren, als die
Lutetia
ziemlich theatralisch aus dem dichten Nebel auftauchte. In diesem Augenblick habe ich mich umgedreht und in gut zwanzig Metern Entfernung einen Fotografen mit seiner Ausrüstung gesehen. Das war nichts Neues, schon seit einiger Zeit gab es die Fotoamateure oder Berufsfotografen, die überall Momentaufnahmen für die Nachwelt machten, wie man damals sagte. Also habe ich – nicht ganz uneitel – überlegt, auf der entwickelten Aufnahme würde ich als Einziger der Nachwelt in die Augen sehen. Und viele, viele Jahre später, wenn die Zeit ihre mörderische Wirkung getan hätte, würde ich trotzdem noch in gewisser Weise ein überlebendes Gesicht sein, weil ich mich instinktiv in genau diesem Augenblick zur Kamera umgedreht hatte. Zusammen mit dieser Aufnahme hatte ich in einem Antiquariat ein ähnliches Foto gleicher Größe erstanden, wenige Stunden nach dem ersten aus demselben Winkel und mit demselben Objektiv aufgenommen, also offensichtlich vom selben Fotografen. Da hatte die
Lutetia
schon festgemacht, und die Passagiere gingen, umringt von Freunden und Verwandten, zum Zollgebäude. Ich bin links unten zu sehen, neben einem größeren Mann in grauem oder beigem Anzug, einen Strohhut etwas schräg auf dem Kopf. Wieder blicke ich in die Kamera, aber dieses Mal missgelaunt, weil ich den Überzieher und die lederne Aktentasche eines anderen halten muss und deshalb fast wie ein Lakai wirke. Der Monsieur neben mir hieß Dubosc, und wenn die Fotografie akustisch wäre, könnte man eine sehr tiefe Stimme heraushören, die nach der französischen Delegation fragt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er mich vermutlich noch nicht erkannt, denn nachdem er Überzieher und Aktentasche mir überlassen hatte, blickte er über mich hinweg und fragte unausgesetzt, der Botschafter?, der Botschafter? Zwar war bereits geplant, dass der Botschafter am Samstagabend seine Salons für ihn öffnen würde zu einem Empfang in Anwesenheit des diplomatischen Corps sowie etlicher Honoratioren und Prominenten der hiesigen Gesellschaft, aber damit gab sich Dubosc nicht zufrieden. Ich hatte in korrektem Französisch erklärt, ich sei entzückt, ihn nach unseren unvergesslichen Begegnungen in Paris, zusammen mit meinem verstorbenen Vater, dem Senator Assumpção, wiederzusehen. Aber selbst der Name meines Vaters zeitigte keine Wirkung, er fragte weiter hartnäckig nach dem Konsul, dem
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