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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch
Autoren: Chico Buarque
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aus besserem Garn gewesen als meiner und länger. Aber so manches Mal endet ein Leben auf halber Strecke, nicht, weil der Faden zu kurz, sondern weil er verdreht ist. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie oft Matilde in ihrem Leben Probleme erlebt hat. Ich weiß nur, dass mein Leben sich länger als erträglich hingezogen hat, wie ein zerfaserter Faden. Ohne Matilde bin ich laut weinend umhergeirrt, vielleicht ähnlich den freigelassenen Sklaven, von denen man sich erzählt. Es war so, als ob ich mit jedem Schritt ein Stück zerreiße, weil meine Haut an dieser Frau hängen geblieben war. Und eines Tages ließ Mama mich zu einem Gespräch kommen, anscheinend war sie etwas enttäuscht, weil sie entdeckt hatte, dass jemand noch unglücklicher war als sie. Sie hütete sich, Matildes Namen auszusprechen, weil sie wusste, dass die Wunde noch brannte, und schenkte mir eine Schiffspassage nach Europa. Mit gesenktem Blick reichte sie mir das Heft mit Pariser Anschriften meines Vaters und sagte dazu, ich hoffe, dass du dich vergnügst, Eulálio. Ob es ein Versehen war, dass sie Eulálio sagte, weiß ich nicht, denn für sie war ich immer Lalinho gewesen, schon allein zum Unterschied zu ihrem Mann. Ich bedankte mich, lehnte die Schiffspassage und das Heft ab, aber Mama wollte mich mit Gewalt heilen und zwang mir schließlich die Reise auf, so wie man ein Kind zwingt, den Löffel Hustensaft zu schlucken. Denn wenn ich nicht reiste, würde sie selbst nach Europa fahren, dann würde sie den Vermögensverwaltern meines Vaters, die auf ihre Telegramme nicht reagierten, ihre Meinung sagen. Dann wäre sie der Mann der Familie und ich ein Schmarotzer, der von Monatswechseln lebt. Es war noch keinen Monat her, dass Le Creusot auf meine Dienste verzichtet hatte, obwohl man bis vor kurzem großes Vertrauen in mich gesetzt hatte. So großes Vertrauen, dass man mir einen neuen Posten Granatwerfer und moderne Geschütze geschickt hatte, als Ersatz für das inzwischen veraltete Gerät unserer Armee, das, genaugenommen, noch gar nicht verkauft war. Bei uns dauerte alles etwas länger als vorgesehen. Kriegsgerät und Sprengkörper aus dem Zoll holen, so etwas zum Beispiel hatte mein Vater mit einem Telefonat erledigt oder aber mit Hilfe eines Spediteurs. Ich hingegen musste frühmorgens im Zollbüro erscheinen, mich auf Tuchfühlung mit fremden Leuten drängeln, meine Visitenkarte vorzeigen, den Angestellten zur Ordnung rufen, hören Sie, Senhor, ich bin Eulálio d’Assumpção. Ich weiß noch, wie verblüfft der Typ war, der mich schließlich bediente, der Senator? Sein Sohn, antwortete ich, und ich sah, wie er sich, halb seitwärts gehend, in Richtung seiner Kollegen begab. Und ihrem Geflüster entnahm ich, dass der Name meines Vaters, in der Republik hoch angesehen, nun beim ordinären Volk zum Schimpfwort verkommen war, Assunção, der Mörder? Assunção, der Gehörnte? Die politische Lage war auch heikel, Ministersessel wackelten, und man ließ uns viele Stunden in Vorzimmern der Regierung schmoren, Dubosc und mich. Der Franzose, der sich auf einen Aufenthalt von einem Monat eingestellt hatte, fast ein Jahr lang feuerte er bis zur Erschöpfung Geschosse in den Atlantik, um rangniedrige Offiziere zu beeindrucken oder um sich selbst abzureagieren. Ich bin sicher, dass er sich in seinen Berichten an die Compagnie in für mein berufliches Ansehen schädlicher Weise geäußert hat. Und wenn ich rachsüchtig wäre, hätte ich meine Reise als Gelegenheit genutzt, dem Stammhaus zu berichten, was Dubosc im Nachtleben von Rio getrieben hat, ich hätte weder seine Jagdpartien in den Bergen verschwiegen noch seine Ausflüge nach Mato Grosso zu wilden Indianern, alles auf Kosten seiner Arbeitgeber. Darüber grübelte ich gerade auf dem Achterdeck der
Lutetia
, während die Stadt aus meinem Blickfeld verschwand, da kam mich der Proviantmeister begrüßen. Man kannte mich auf diesem Schiff von anderen Überfahrten, und das gesamte Bordpersonal sprach mir sein Beileid wegen des Senators aus. Papa wurde für sein tadelloses Französisch und seine großzügigen Trinkgelder verehrt, besonders auf den Hinreisen oder, wie er es nannte, auf dem Weg in die Zivilisation. Und gleich am ersten Abend wurde ich eingeladen, das Souper am Tisch des Kapitäns einzunehmen, der in Anwesenheit des Architekten Le Corbusier und der Sängerin Josephine Baker in Erinnerung an meinen Vater einen Toast ausbrachte und auf sein galantes Plaudern anstieß. Dadurch angeregt,
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