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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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nicht ändern. Ich sitze für immer hier fest.«
    »Auf der Grenze? Zwischen den Welten?«
    »Ja. Das ist doch die klassische Definition eines Geistes, oder?«
    »Möchtest du denn dann nicht lieber ganz und gar tot sein?«, frage ich.
    »Doch.« Sie schüttelt den Kopf, schert sich nicht um die Tränen in ihren Augen. »Nein. Vielleicht. Manchmal erhasche ich einen Blick darauf, so wie wenn man vom Flugzeug aus auf eine Landschaft sieht. Irgendwie erinnert es mich an meine Kindheit, als die Welt noch unser Königreich war, keine Ahnung, warum.«
    Mein Herz wedelt mit einer roten Fahne. Ich muss mich beeilen.
    »Schnell«, sage ich. »Sag mir, was du am meisten vermisst.«
    »Wie?«
    »Was vom Leben vermisst du am meisten?«
    Ihr Blick verwischt mit Sommerwolken. »Wie meine Mutter gesungen hat, immer ein bisschen schief. Wie mein Vater jedes Mal zum Schwimmunterricht mitkam und ich seine Pfiffe hörte, wenn mein Kopf unter Wasser tauchte, obwohl er mich hinterher angebrüllt hat, ich solle mir gefälligst mehr Mühe geben.«
    Während sie redet, rücke ich langsam und unbemerkt Richtung Tür.
    »Ich vermisse es, in die Bibliothek zu gehen. Den Geruch der Wäsche, wenn sie frisch aus dem Trockner kommt. Vom obersten Sprungbrett zu springen und eine Punktlandung hinzulegen. Ich vermisse Waffeln. Oh.« Ihr Kopf fällt in den Nacken, als würde sie auf einer Schaukel in den Himmel fliegen. Ihre Umrisse werden schwächer. »Oh, Lia, das ist wunderbar! Ich habe nie daran gedacht, die besten Dinge mitzunehmen.«
    Ich öffne die Tür. »Fühlst du dich besser?«
    Sie ist durchsichtig. »Bestens.«
    »Gut.« Mein Herz schlingert.
    »Geh ins Büro«, sagt sie, während ihr Körper sich auflöst wie Nebel in der Sonne. »Das Münztelefon an der Wand funktioniert noch. In der obersten Schublade ist Kleingeld. Beeil dich.«
    »Es tut mir leid«, sage ich. »Es tut mir leid, dass ich nicht rangegangen bin.«
    Ihre Augen funkeln wie Sterne. »Mir tut es leid, dass ich nicht früher angerufen habe.«
    063.00
    Es dauert fast den Rest meines Lebens, bis ich endlich im Büro bin, aber weil der Mond über meine Visionen wacht und die Sterne alle in einer Reihe stehen, liegt das Kleingeld tatsächlich dort in der Schublade, und das Münztelefon funktioniert.
    Ich rufe meine Mutter an und beschreibe ihr, wo sie mich findet. Ich erzähle ihr, dass ich endlich wieder lebe, aber sie soll sich beeilen.
    Die Sanitäter berühren mein Herz mit ihrem Zauberstab, während wir ins Krankenhaus rasen. Einmal, zweimal, dreimal.
    064.00
    Sie sagen mir, dass ich zehn Tage im Krankenhaus war.
    Ich schlief. Traumlos.
    065.00
    Mein dritter Besuch im New Seasons ist der bisher längste, eher ein Marathonlauf als ein Sprint zur Zielgeraden. Die meiste Zeit gehe ich nur. Mache Pausen und setze mich hin, wenn ich müde bin. Stelle viele Fragen. In regelmäßigen Abständen durchlebe ich ein bis drei Tage mit Sturmwolken im Kopf. Dann setze ich mich noch öfter hin und bin still, bis es vorüber ist.
    Keine Spielchen diesmal. Keine Sportpartys um Mitternacht im Duschraum, nicht für mich. Kein Essen wird mehr in den Zimmerpflanzen abgeladen oder in der Unterwäsche versteckt, kein Aufseher mehr bestochen, damit er falsche Angaben über meine Kalorienaufnahme macht. Ich gehe dem Drama der Mädchen aus dem Weg, die immer noch bis zum Hals im Schnee stecken und vor dem Schmerz davonrennen, so schnell sie können. Hoffentlich kriegen sie es irgendwann hin.
    Die Vorstellung zu essen ist unheimlich. Die ekelhaften Stimmen sind stets zur Stelle, eifrig bemüht, mich wieder herunterzuziehen,
    ::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
    aber ich lasse sie nicht. Ich stecke mir alle Bissen in den Mund und versuche nicht zu zählen. Das ist schwer. Wenn ich mir einen halben Zimtbagel nehme, springen die Zahlen mich an, buh! Ein halber Bagel (165). Ein ganzer Bagel (330). Zwei Esslöffel voll Frischkäse, Doppelrahmstufe (80).
    Ich atme langsam ein. Essen ist Leben. Ich atme aus, hole erneut Luft. Essen ist Leben. Und das ist das Problem. Wenn man am Leben ist, können die anderen einen verletzen. Es ist einfacher, in einen Knochenkäfig zu kriechen oder in eine Schneewehe der Verwirrung. Es ist einfacher, alle anderen auszublenden.
    Aber es ist eine Lüge.
    Essen ist Leben. Ich nehme mir auch noch die zweite Hälfte des Bagels und schmiere Frischkäse auf beide. Keine Ahnung, wie viel ich wiege. Das jagt mir fast Todesangst ein, aber
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