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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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zusammen. »Hilf mir auf.«
    Er lässt zu, dass ich mich auf seinem Arm abstütze. Ich stehe und zähle bis zehn, um sicher zu sein, dass ich nicht wieder in Ohnmacht falle, dann löse ich die Verbände und lasse die Mullbinden zu Boden fallen.
    Seine Augen wandern über die Stiche und Nähte, die schwarzen Fäden, die wie Drahtstücke hervorschauen. Die Blutergüsse haben die Hautoberfläche erreicht, auf den straff umspannten Knochen zeichnen sich sämtliche Farben des Sonnenuntergangs ab. Elijah sieht weder meine Brüste noch meine Taille noch meine Hüften. Er sieht einzig und allein den Albtraum.
    »Wie ist das passiert?«, flüstert er.
    »Ich bin von der Landkarte gefallen.« Ich greife nach dem Unterhemd und ziehe es wieder an. Es scheuert nicht so wie das Verbandszeug. »Meine Schwester hat mit angesehen, wie ich das getan habe. Sie heißt Emma. Die, die Fußball spielt, obwohl sie es hasst. Sie ist neun und liebt mich sehr un d …«, ich warte, bis meine Stimme wieder da ist, »… und ich hab sie für den Rest ihres Lebens verkorkst. Ich kann nicht hierbleiben. Ich habe zu vielen Menschen wehgetan.«
    Der Schnee segelt herab, eine schwerelose Flocke setzt sich auf die nächste, bis sie zusammen genügend Gewicht haben, um Dächer einzuschlagen.
    »Darf ich deinen Arm berühren?«, fragt er schließlich.
    »Klar.«
    Er nimmt meine rechte Hand in seine und schiebt seinen Daumen am Unterarm hinauf, entlang der Vertiefung zwischen meiner Elle und meiner Speiche. Seine Finger wandern über die Spitze meines Ellbogens und formen mit Daumen und Zeigefinger einen Ring, der sich mühelos um meinen Bizeps schließt.
    »Wie viel wiegst du?«, fragt er.
    »Nicht genug.« Ich schniefe. »Zu viel.« Ein Schluchzer entfährt mir. »Keine Ahnung.«
    »Zieh dich an.« Er reicht mir das lange Unterhemd. »Du kannst mitkommen, unter zwei Bedingungen.«
    »Was für welche?« Ich stecke Kopf und Arme hinein, ziehe das Hemd herunter und nehme den Rollkragenpulli.
    »Du musst genug essen, um weder ohnmächtig zu werden noch zu sterben.«
    »Klingt fair.«
    »Zweitens: Du musst deine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass dir nichts passiert ist.«
    »Nein, ich kann nicht mit ihnen reden.«
    »Wenn du sie nicht anrufst, nehm ich dich nicht mit.«
    »Wie oft rufst du denn deine Familie an?«
    Sein Gesicht verhärtet sich. »Ich habe keine Familie.«
    »Du hast doch erzählt, dein Vater sei ein Arsch, aber dass du deine Mutter liebst.«
    »Ich hab gelogen. Ich wurde in einem Ei ausgebrütet und hab mich selbst großgezogen.«
    Der Sturm bläst den Schnee gegen das Motel.
    »Du wolltest doch nicht mehr lügen.«
    Er blickt an mir vorbei auf die nackte Wand. »Du willst die Wahrheit wissen?«
    »Ja.«
    Elijah hebt mein Sweatshirt auf, sein Daumen streicht über die weiche Innenseite des Stoffes. »Meine Mutter ist tot. Sie starb, als ich fünfzehn war. Eine Woche später schlug mich mein Vater zum allerletzten Mal. Er hat mich aus dem Haus geworfen, weil ich mich gewehrt habe. Das war das Beste, was er je für mich getan hat.«
    Er reicht mir das Sweatshirt.
    »Oh.« Mehr fällt mir nicht ein.
    »Ich mein es ernst«, sagt er mit versteinerter Miene. »Wenn du deine Eltern nicht sofort anrufst, rufe ich bei der Polizei an und melde dich als Einbrecher.«
    Ich hinterlasse bei meiner Mutter zu Hause eine Nachricht auf dem AB , so wird es eine Weile dauern, bis sie sie bekommt. Ich sage, dass es mir gut gehe, dass ich bei einem Freund sei und sie später wieder anrufen werde.
    Elijah findet im Fernsehen einen Weihnachtsfilm, den wir uns schweigend anschauen. Er isst ein paar Stücke Pizza, dann zeigt er auf mich. Ich esse ein paar Stücke Kruste.
    Zwei Stunden und zwei Schlaftabletten später schlafe ich ein. Keine Cassie in meinem Kopf. Kein Cassiegeruch in meiner Nase. Keine Messer, keine Schlösser, kein einziger Schatten in den Ecken. Ich habe Pizzakruste im Bauch und möchte nicht mal hineinstechen.
    Zweimal wache ich auf.
    Das erste Mal zeigt der Digitalwecker 1:2 2 Uhr an. Ich träume davon, Asche zu schaufeln. Der Griff der Schaufel ist so heiß, dass ich sie fallen lasse. Ich schlage die Augen auf. Die Tabletten haben meinen Kopf so schwer gemacht, dass ich ihn nicht vom Kissen heben kann.
    Elijah sitzt an dem winzigen Tisch neben dem Fenster, Zigarette im Mund, das Flackern vom Fernseher lässt sein Gesicht aufleuchten. Er mischt seine Karten einmal, zweimal, dreimal, teilt ein Blatt aus. Legt es zurück auf den Stapel und
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