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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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möchte mit dem Leiter vom New Seasons darüber sprechen. Vielleicht werden wir eine Änderung im Behandlungsplan vornehmen. Seine Einrichtung ist möglicherweise nicht die richtige für dich.«
    Ich putze mir die Nase. »Dann kann ich also zu Hause bleiben und ambulant behandelt werden?«
    Sie notiert noch etwas, ehe sie weiterredet: »Nein, das habe ich nicht gesagt.«
    Irgendein Unterton ihrer Stimme lässt mich schockgefrieren, meine Hand, die gerade nach einem neuen Taschentuch greifen wollte, hält in der Luft inne. »Verstehe ich nicht.«
    Draußen ist ein Krachen zu hören, mitten im Sturm beginnt es zu donnern. Die Fenster klirren. Dr . Parker spricht völlig beiläufig weiter, als gehöre es zu ihren alltäglichen Gewohnheiten, kleine verängstigte Mädchen ins Irrenhaus zu stecken.
    »Dir steht das Bestmögliche zu«, fährt sie fort. »Geschulte Leute, die wissen, wie sie deine Psyche wieder ins Gleichgewicht bringen. Wenn die Halluzinationen und Wahnvorstellungen erst einmal unter Kontrolle sind, wird es dir leichter fallen, an deinem Selbstbild zu arbeiten. Und auch an den zwischenmenschlichen Beziehungen, die dich so unglücklich machen.«
    »Sie denken, ich habe mir das alles ausgedacht«, sage ich. »Sie glauben nicht, dass ich Geister sehe.«
    »Ich glaube, dass du dir ein bildliches Universum geschaffen hast, um darin deine schlimmsten Ängste zum Ausdruck zu bringen. In gewisser Hinsicht glaube ich an Geister, ja, aber wir erschaffen sie selbst. Wir quälen uns, und manchmal sind wir dabei so erfolgreich, dass wir den Bezug zur Wirklichkeit verlieren.« Sie steht auf. »Ich breche hier nur ungern ab, aber draußen wartet der nächste Patient. Du solltest wirklich stolz auf dich sein, Lia. Du hast heute einen Durchbruch geschafft. Wie kommst du nach Hause?«
    »Jennifer.«
    Sie zieht den Vorhang beiseite und wirft einen Blick auf den Parkplatz. »Ein schwarzer SUV , oder? Ich sehe da draußen keinen.«
    »Sie hasst es, bei schlechtem Wetter zu fahren.«
    »Sie wird sicher gleich da sein.«
    Entschuldigen Sie, aber haben Sie mir vor zwei Minuten empfohlen, in eine Irrenanstalt zu gehen, nur weil ich Ihnen endlich die Wahrheit gesagt habe? »Besser spät als nie.«
    Ich folge ihr ins Wartezimmer, wo eine äußerst genervte Mutter mit gesenkter Stimme ihre Tochter anzischt, deren Augen nach Mord aussehen. Dr . Parker winkt die beiden in ihr Zimmer.
    »Pass auf dich auf, Lia«, sagt sie zu mir. »Ich rufe dich morgen an.«
    055.00
    Cassie ist verschwunden.
    Ich schlage das Kreuzworträtsel in der Zeitschrift auf. Dreizehn senkrecht – Bund. Fünfzehn waagerecht – Cassandra. Sieben senkrecht – Lia. Unsere Namen sind nicht die richtigen Lösungen, aber sie passen in die Kästchen.
    Das würde Dr . Parker gefallen. Sie hätte mich auch gern in einem Kasten, groß genug für ihre Diagnose. Sie wird mich darin einsperren, damit die Leute mich anstarren und ihre Finger durch die Gitterstäbe stecken können.
    ***
    Ich kenne drei Mädchen aus dem New Seasons, die in die Psychiatrie gesperrt worden waren: Kerry, Alvina und Nicole. Sie erzählten Horrorgeschichten darüber, während wir nachts um drei im Duschraum bei Mondlicht Sit-Ups, Liegestütze und Hampelmänner machten. Die gepolsterten Wände gebe es wirklich, sagten sie. Auch die gepolsterten Liegen, auf denen man die Leute festschnalle, wenn sie vollkommen durchtickten. Medikamentöse Nebelschleier, so dicht, dass sie ihre Namen nicht mehr wussten. Schreiende Menschen auf den Korridoren, Licht, das nie abgeschaltet wurde. Es wurde nie Morgen und wurde nie Nacht, sagte Kerry. Nie.
    War das schlimmer als das Schicksal jener erwachsenen Frauen, die bei uns auf dem Flur wohnten, aber kaum mit uns redeten? Wintermädchen, die fünfundzwanzig, dreißig, siebenundfünfzig Jahre alt waren und in ihren elf Jahre alten Knochenkäfigen herumliefen. Die sich leer und mit blutunterlaufenen Augen von einer Anwendung zur nächsten schleppten, ständig gewogen wurden und immer zu wenig hatten. Der Wind wird sie eines Tages davonwehen, und niemand wird es merken.
    Ein Wagen rollt auf den Parkplatz, nicht Jennifer. Vielleicht wäre ich ja zu Fuß schneller, nur dass ich jetzt schon halb erfroren bin und müde.
    Ich betrachte die Diplome an der Wand. Ich habe Dr . Parker Angst eingejagt. Sie kann nicht zugeben, dass meine Geister existieren. Wenn sie es täte, wäre ihre Vorstellung von Realität dahin. Ihre Ideen von Trauma und Verhaltensänderung und Affirmation
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