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Puppentod

Titel: Puppentod
Autoren: Katharina Winter
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    Drei Meter noch bis zur Wasseroberfläche. Gleich hatten sie es geschafft.
    Michael spürte den sanften Druck ihrer Hand. Alles in Ordnung, sollte das heißen. Ihr zweiter Atemregler sicherte seine Luftzufuhr. Es konnte ihm nichts passieren. Er musste ruhig bleiben. Das war das Wichtigste. Doch er hatte schreckliche Angst.
    Entspann dich, dachte er. Bleib ruhig. Gleichmäßig atmen. Langsam aufsteigen. Zeitlupentempo. Nicht in Hektik verfallen.
    Er spürte erneut ihre Hand. Lisa war ein Profi, sie schien seine Panik zu bemerken. Wie weit mochte es noch sein? Er wagte einen kurzen Blick nach oben und sah Schwärme bunter Tropenfische. Sie tummelten sich dort, wo das warme Sonnenlicht bereits das Wasser durchdrang. Einen halben Meter noch, höchstens.
    Dann durchstießen ihre Köpfe ruckartig die glitzernde Wasseroberfläche. Der Himmel über ihnen erstrahlte in einem satten Türkisblau. Er war noch nie so froh gewesen, den Himmel zu sehen.
    Sie ließ seine Hand los und schob sich die Taucherbrille über die Stirn.
    »Alles in Ordnung?«, rief sie.
    Michael nickte, obwohl davon keine Rede sein konnte. Den ersten Tauchgang im offenen Meer hatte er sich anders vorgestellt. Acht Meter unter Wasser hatte er plötzlich
keine Luft mehr bekommen. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn Lisa, seine Tauchlehrerin, nicht sofort eingegriffen hätte.
    »Geht es dir wirklich gut?«, fragte sie noch einmal nach.
    Er zog langsam den Atemregler aus seinem Mund.
    »Ja, danke, alles okay«, antwortete er. Dabei zitterte er am ganzen Körper. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, und er musste sich richtig anstrengen, die kurze Strecke bis zum Boot zu schwimmen.
    Er kletterte vor ihr die Leiter hinauf, vergaß aber, seine Flossen auszuziehen. Leider fiel ihm das erst auf, nachdem er oben angekommen war. Er sah bestimmt aus wie ein Volltrottel.
    An Bord wurden sie von Julio empfangen. Er rief Lisa etwas auf Spanisch zu und schwenkte seinen breitkrempigen Strohhut durch die Luft. Mit seinen sechzehn Jahren war Julio wahrscheinlich der jüngste Bootsführer der ganzen Dominikanischen Republik, aber alles andere als unerfahren. Laut Lisa hatte er ein Boot gesteuert, noch bevor er laufen konnte.
    Er schien sie zu fragen, warum sie so früh zurückkamen, und machte bei ihrer Antwort einen betroffenen Eindruck.
    »Was hat er?«, wollte Michael wissen.
    »Er macht sich Sorgen, dass deine Ausrüstung nicht in Ordnung war«, erwiderte Lisa. »Er hat sie heute Morgen gemeinsam mit Flavio überprüft, und die beiden sind darin normalerweise sehr genau. Ich denke jedoch nicht, dass es an der Ausrüstung lag.«

    »Sondern?« Fragend schaute Michael sie an.
    Sie zuckte mit den Achseln, setzte sich ihm gegenüber und strich ihr langes, mahagonibraunes Haar zurück. Es war nass und glänzte in der Sonne.
    »Manchmal macht das offene Meer den Tauchschülern Angst«, erklärte sie. »Dann kommt es schnell zu einer Panikattacke, die zu Atemnot führt.«
    Julio rief ihr etwas zu. Er hatte sich so weit über das Geländer des Bootes gelehnt, dass er aufpassen musste, nicht über Bord zu fallen.
    »Die anderen kommen auch schon hoch«, sagte Lisa und fügte verwundert hinzu: »Dabei sollte Flavio mit ihnen doch mindestens fünfzehn Minuten unten bleiben.«
    Als Flavio, der zweite Tauchlehrer, kurz darauf mit den vier anderen Tauchschülern an Bord kam, warf Lisa ihm einen ärgerlichen Blick zu.
    Temperamentvoll verteidigte er sich. Er habe den Tauchgang abgebrochen, als er sie und Michael aufsteigen sah.
    »Was war denn los?«, fragte er aufgeregt.
    »Michael hatte ein kleines Luftproblem«, antwortete Lisa. »Aber es war nur halb so schlimm.«
    »Alles wieder okay?«, wandte Flavio sich an Michael.
    Michael nickte. »Alles okay.«
    »Wir brechen für heute ab und fahren zurück zur Basisstation«, rief Lisa der Gruppe zu. Daraufhin gab sie Julio ein Zeichen, und er ließ den Motor des Bootes aufheulen.

    Nachdem Michael sich von dem Schreck des ersten Tauchganges erholt hatte, ging er zum Büro der Tauchschule, das sich in einer kleinen Holzbaracke befand, nur wenige Meter vom Strand entfernt. Er klopfte an die angelehnte Tür, öffnete sie und steckte den Kopf in den Raum. Lisa, seine schöne Lebensretterin, saß hinter einem L-förmigen Schreibtisch am Computer.
    »Komm herein«, rief sie.
    Daraufhin trat er ein, wobei er sich den Kopf an einem Holzbalken stieß. Wie ungeschickt, fluchte er bei sich. Was sollte sie bloß
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