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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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den darauffolgenden Tagen wehten kalte Winde, die durch Mark und Bein gingen. Es war ein Winter, der nicht enden wollte, er verkürzte die Tage und machte die Dunkelheit zum ständigen Begleiter der Reisenden. Sir Topher hatte entschieden, dass der beste Weg nach Sorel über Sarnak führte, von dort aus wollte er der Straße durch Charyn folgen. Obwohl es schneller gewesen wäre, durch Belegonia zu reisen, hatte er auf dieser Route beharrt, denn sie würden danach für mindestens ein Jahr nicht mehr nach Sarnak zurückkehren, und es war möglich, dass sie auf Überlebende des Gemetzels trafen. Die Chance wollte er sich nicht entgehen lassen. Was das anging, war Finnikin einer Meinung mit ihm; es war nur das Reiseziel, das ihm nicht behagen wollte.
    „Wir begehen einen Fehler“, sagte er am dritten Morgen, als er sich hinter einem Baum ankleidete. Er schlüpfte in seine hirschlederne Hose, dann in seine Stiefel; in den Stiefelschaft steckte er einen kleinen Dolch.
    „Das sagst du nun schon zum zehnten Mal, Finnikin!“, rief Sir Topher mit einer Gelassenheit, die Finnikin rasend machte.
    Finnikin hatte die Geduld Sir Tophers über die Jahre hin schätzen gelernt, seit er von Perri dem Wilden, dem Stellvertreter seines Vaters, in dessen Obhut übergeben worden war. Heute jedoch ärgerte er sich über diese Geduld.
    „Sorel“, murrte er unzufrieden und trat hinter dem Baum hervor. „Niemand will nach Sorel. Kein Vertriebener würde sein Lager in Sorel aufschlagen. Nicht einmal die Bewohner von Sorel mögen ihr Land.“
    „Wir wollen uns nicht über den Weg streiten und uns stattdessen wie die Novizin in Zurückhaltung üben“, gab ihm Sir Topher zur Antwort.
    Evanjalin trug wenig dazu bei, Finnikins Enttäuschung abzumildern. Nachts wälzte sie sich auf ihrem Lager hin und her, als sei sie von Dämonen besessen; sie knirschte mit den Zähnen, schrie voller Verzweiflung. Während sie über die baumlose Ebene zogen, sackte sie manchmal in sich zusammen, als drückte die Last ihrer Träume sie nieder. Dann wieder war ihr Gang leicht und beschwingt, und ein verträumtes Lächeln lag auf ihren Lippen, als dächte sie an einen so glückseligen Moment, dass schon die bloße Erinnerung daran sie durch dieses kalte, öde Land trug.
    Tief in seinem Inneren wusste Finnikin, dass nicht nur dieses fremdartige Mädchen an seinem Unbehagen schuld war. Der Thronerbe, von dem die Rede gewesen war, hatte Erinnerungen wachgerufen, die ihn mit Unruhe und Hoffnungslosigkeit erfüllten. In den vergangenen zehn Jahren war die Liste der Toten im Buch von Lumatere immer länger geworden. Manche waren in Sarnak erschlagen worden, manche waren in einem Dorf in Charyn an der Pest gestorben und ein Teil war in den Fluten umgekommen, als ihre Lagerplätze in Belegonia überschwemmt worden waren. Die Flüchtlinge hatten keine Heiler und deshalb auch keine Mittel gegen die Leiden, die andere überlebten.
    Auch als sie in Sarnak ankamen, hatten sie noch unter der Witterung zu leiden, aber es gab jetzt öfter eine warme Mahlzeit, und Finnikin war glücklich, nicht mehr auf das trockene Brot und den schimmeligen Käse angewiesen zu sein, der mehr als eine Woche lang ihre Hauptnahrung gewesen war. Gelegentlich tauchten auch Bäume und Sträucher neben der Straße auf, und als sie weiter nach Osten wanderten, gelangten sie in ein üppiges Waldland, wo sie beschlossen, ihr Lager aufzuschlagen.
    An diesem Abend, als Sir Topher über die Landkarte gebeugt saß, bemerkte Finnikin, wie das Mädchen das Schwert betrachtete, das neben seiner Satteltasche lag.
    „Das hat meinem Vater gehört“, sagte er schroff. Er zog es aus der Scheide. Der Griff war schmucklos, nur ein Edelstein prangte darauf, ein Rubin, prächtig funkelnd. Als Kind hatte sich Finnikin immer vorgestellt, der Stein müsste Wunderkräfte haben. Er hatte geglaubt, dass alles, was Trevanion anfasste, Wunderkräfte besaß. Die Novizin streckte die Hand aus und berührte den Stein.
    „Der Rubin ist der Stein der Herrscher von Lumatere. Wusstet Ihr das?“, fragte Sir Topher und blickte von seiner Karte auf.
    Darauf griff die Novizin tief in ihre Tasche und zog einen Rubinring hervor. Liebevoll fuhr sie mit dem Finger darüber, dann hielt sie ihn Finnikin auffordernd hin. Als er keine Anstalten machte, ihn zu berühren, nahm ihn Sir Topher und betrachtete ihn. Finnikin sah ihre Augen strahlen und wusste sofort, dass der Ring ihr so viel bedeutete wie ihm das Schwert seines Vaters. Als er
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