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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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des Felsendorfs verboten ihrem Volk zu gehen. Von ihrem erhöhten Wohnort aus konnten sie sich hervorragend verteidigen, da sie von dort das ganze Königreich überblickten. Viele Familien, die am Fluss lebten, taten es ihren Nachbarn aus dem Tiefland gleich und gingen ins Tal der Stille, während andere den Fluss hinauf nach Sarnak fuhren, um dort zu warten, bis sich die Unruhen gelegt hatten. Am Ende des dritten Tages hatte schon die Hälfte der Bewohner Lumatere verlassen.
    Am nächsten Tag wurde der Hauptmann der Königlichen Garde aufgefordert, den Treueeid auf den neuen König abzulegen. In Lumatere gebot es die Tradition, dass alle vor dem König knieten, nur die Königliche Garde nicht. Seit der Zeit, als die Götter noch auf Erden wandelten, musste sie sich vor dem neuen König auf den Boden werfen.
    Doch Hauptmann Trevanion weigerte sich, denn er war davon überzeugt, dass das Blut Unschuldiger an den Händen des Thronräubers klebte. Um diesen Ungehorsam zu rächen, verhafteten die Gefolgsleute des Thronräubers Lady Beatriss und beschuldigten sie, gemeinsam mit Trevanion Verrat begangen zu haben. Denn in der Nacht, in der die Bewohner des Palastes erschlagen worden waren, hatte Beatriss, die Hofdame der Prinzessinnen, als Einzige überlebt. Warum war sie ungeschoren davongekommen?, fragte der Thronräuber. Wie hatten die Mörder in den bewachten Palast eindringen können, wenn nicht mit Unterstützung des Hauptmanns und seiner Garde? Gewiss, tief in ihrem Inneren waren die Bewohner von Lumatere davon überzeugt, dass Beatriss und Trevanion nichts mit den Morden zu tun hatten, aber alles war ja in Aufruhr.“
    „Vor den Augen Trevanions“, sprach Sir Topher weiter, „wurde Lady Beatriss misshandelt. Ich hörte, wie sie schrie. Sie folterten sie so lange, bis Trevanion den angeblichen Verrat gestand. Er sagte ihnen alles, was sie hören wollten, weil er wusste, dass sie als Nächstes seinen Sohn holen würden.“
    Finnikin ballte die Fäuste, seine Fingernägel gruben sich in sein Fleisch. Er sah, wie die Novizin zusammenzuckte, als spürte sie den Schmerz am eigenen Leib.
    „Beatriss wurde zum Tode verurteilt, Trevanion wurde in die Verbannung geschickt. Manche behaupten, der König des benachbarten Belegonia habe sich für Trevanion verwandt. Einige vermuten jedoch, dass der Thronräuber einen Aufstand von Trevanions Männern fürchtete. Er wusste, sie würden stillhalten, solange ihr Hauptmann am Leben war.“
    Finnikin fing an, die Armbrust zu säubern. Er wollte nicht daran denken, was geschehen war, nachdem man seinen Vater vertrieben hatte. Manchmal sah er all jene Ereignisse undeutlich wie im Nebel, manchmal standen sie ihm klar vor Augen.
    „Am fünften Tag wurde Seranonna auf den Marktplatz gezerrt. Sie war die Letzte aus den Reihen der Waldbewohner, die man hinrichtete, aber es ging das Gerücht um, dass Lady Beatriss als Nächste zum Scharfrichter geführt würde. Seranonnas Hände und Kleider waren blutbeschmiert. Einige glaubten, sie habe Lady Beatriss bei der Entbindung im Kerker geholfen, daher stamme das Blut. Andere glaubten, es sei noch immer das Blut von Isaboe, die Seranonna ermordet habe.“
    „Auch ich befand mich in der Menge“, erzählte Sir Topher weiter. „Mein König sagte immer, man dürfe sein Volk nicht im Stich lassen, wenn es leide. Ich glaube, keiner hat sich damals ausmalen können, wie zornig Seranonna war über das Unrecht, das man ihren Leuten angetan hatte. Keiner konnte ermessen, wie sehr sie die Königin und ihre Kinder betrauerte.“
    Finnikin erinnerte sich, wie man Seranonna auf den Platz gezerrt hatte und wie sie vor Wut geschrien hatte: „Unsere geliebte Beatriss ist tot!“ Und um ihn herum hatte sich ein Jammern erhoben, während er vor dem Klang ihrer Stimme erbebt war. Er hatte diese Stimme schon zuvor einmal vernommen. Sie hatte zu ihm gesprochen, als er mit Isaboe im Wald von Lumatere gespielt hatte. Und diese Worte hatten ihn ein Leben lang verfolgt.
    „Dann stieß sie einen Fluch aus, der so schauerlich war, dass sich die Erde auftat“, sagte Sir Topher. „Die Leute schrien auf, und nicht einmal eine Armeslänge von mir entfernt stürzten Menschen in den Abgrund, ehe er sich wieder verschloss. Andere rannten zum Haupttor. Hütten hoch über der Straße stürzten auf die Fliehenden herab. Ich sah, wie die ganze Familie des Schmieds unter Trümmern, Steinen und Schlamm begraben wurde. Viele Menschen wurden zu Tode getreten, als sie versuchten,
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