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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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das Tor zu erreichen.“
    Finnikin schauderte. Er erinnerte sich an den Mann aus dem Tiefland, der mit einem Seil das Tor hatte aufhalten wollen, damit seine Familie hindurchgehen konnte. Als sich das Tor geschlossen hatte, war das Seil in seinen Händen kaputtgegangen und seine Frau und sein Sohn hatten ihn zurücklassen müssen. Aber die Tochter hatte unbedingt bei ihrem Vater bleiben wollen, und das Letzte, was Finnikin von Lumatere gesehen hatte, als er unter den Zacken des Eisentores hindurchgerannt war, war das Bild einer Familie, die auseinandergerissen wurde. Dann kam nichts mehr. Kein Laut war mehr von der anderen Seite herübergedrungen und ein schwarzer Nebel legte sich über das Königreich.
    Finnikin spürte die Blicke Evanjalins auf sich, während Sir Topher seinen Kopf in den Händen vergrub.
    „Verfluchtes Land. Verfluchte Menschen.“
    Evanjalin nahm wieder den Hasen und fuhr fort, ihn zu häuten. Ihre Hände zitterten.
    Sprich doch!, hätte Finnikin sie am liebsten angebrüllt. Klage an. Schreie. Wüte. Wüte!
    „Ich fürchte, ich habe sie erschreckt“, murmelte Sir Topher in belegonischer Sprache.
    „Nein, du hast mich erschreckt.“
    Die Flammen knisterten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers verrichtete die Novizin ihre Arbeit.
    „Dieses Jahr wird das letzte sein, in dem wir reisen. Wenn er noch am Leben ist, dann ist Balthasar inzwischen erwachsen. Und wenn er jetzt nicht auftaucht, dann nie.“
    „Du hast nie daran geglaubt, dass er noch lebt“, sagte Finnikin. „Sie lügt.“
    „Und weshalb sollte sie lügen?“
    „Vielleicht ist sie eine Spionin aus Charyn oder eine Waldbewohnerin, die Vergeltung sucht. Vielleicht glaubt sie, wir würden sie zum Thronerben führen, damit sie ihn aus Rache für die Verbrechen an ihrem Volk töten kann.“
    Sir Topher legte einen Finger an die Lippen. Es war zu offensichtlich, dass sie von ihr sprachen, und sie wussten doch so wenig von dem Mädchen. „Sie sieht aus, als käme sie aus Mont“, sagte er und wechselte ins Osterianische. „Die Waldbewohner waren so blond wie du, Finnikin. Vielleicht will sie einfach nur zu ihrem Volk zurück, und sie weiß, dass sie nur mit uns zusammen sicher dort ankommt.“
    Finnikins Erregung wuchs. „Wir machen einen Fehler, Sir Topher. Wir haben nie jemandem so weit vertraut, dass wir ihn mit uns reisen ließen. Niemals.“
    „Aber du wirfst ihr immer Blicke zu.“
    „Weil ich wütend bin“, verteidigte sich Finnikin. „Wir könnten etwas Nützliches tun. Als wir zum Kloster gerufen wurden, glaubten wir, dort jemanden zu treffen, für den sich die Reise lohnt.“
    Wie Balthasar, wollte er sagen.
    Im Gegensatz zu Sir Topher hatte er geglaubt, der Bote würde sie zu seinem geliebten Freund führen. Und nun waren sie hier und hatten dieses nichtsnutzige Mädchen am Hals. Finnikin schüttelte sich vor Widerwillen.
    „Ich dachte, dir gefielen die zarten Mädchen“, sagte Sir Topher lächelnd. „Ich habe doch gesehen, wie du Lady Zarah, der Tochter von Lord Tascan, schöne Augen gemacht hast.“
    „Ich mag Mädchen, die liebenswürdig und nicht einfältig sind. Und ich habe es gern, wenn sie sprechen“, korrigierte ihn Finnikin. „Und wenn sie ein bisschen vornehm erzogen sind, schadet es auch nichts.“
    Er blickte zur Seite, wo die Novizin saß. Sie nahm gerade den Hasen aus, ihr Mund war leicht geöffnet, die Zunge schaute hervor, so konzentriert ging sie zu Werke. Ein einfältiges Mädchen, ja das ist sie, dachte Finnikin bitter.
    Sie aßen schweigend. Später saß das Mädchen da, hatte die Arme um die Knie geschlungen und zitterte. Vielleicht hatte Sir Topher ja Recht und seine Geschichten von Lumatere würden sie im Traum verfolgen. In diesem Punkt, so grübelte Finnikin, glichen sie einander, denn seit Kurzem schien auch er nicht mehr Herr seiner Träume zu sein. Sonst hatte er immer vom Fluss geträumt, davon, auf einem Kahn zusammen mit seinem Vater den Fluss hinabzufahren. Dann wieder träumte er von Lady Beatriss und ihrer sanften, einlullenden Stimme. Er träumte davon, wie sie und Trevanion einander zugetan waren. Aber seit der Bote sie zum Kloster in Sendecane gerufen hatte, beherrschten Mord und Totschlag Finnikins Träume.
    In dieser Nacht peinigten ihn Bilder der Novizin Evanjalin. Von ihren Händen troff das Blut des Hasen und sie schrie, als würde sie bei lebendigem Leib verbrannt. Sie schrie den Namen heraus, der ihr Nacht für Nacht in der vergangenen Woche entschlüpft
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