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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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an seinen Vater dachte, schlug ein Meer aus Kummer über ihm zusammen. Unvermittelt stand er auf, nahm seinen Bogen und verschwand im Wald.
    Einige Zeit später kam Finnikin mit zwei wohlgenährten Hasen zurück. Wie selbstverständlich nahm die Novizin einen der Hasen, setzte sich ans Feuer, machte einen Schnitt und zog dem toten Tier geschickt das Fell über die Ohren. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schmierte sich dabei Blut ins Gesicht. Als sie spürte, dass Finnikin sie beobachtete, blickte sie auf, und im flackernden Feuerschein sah er eine Wildheit in ihren Augen, die weder schlichte Kleidung noch eine fromme Haltung überdecken konnten.
    Sir Topher war schwermütig an diesem Abend, und der Met, den sie sich an der Grenze gekauft hatten, hatte seine Zunge gelockert. Immer wenn er in dieser Verfassung war, trank er und erzählte von den Fünf Tagen des Unsagbaren. Finnikin liebte diesen Mann von ganzem Herzen, und er wusste, dass er ohne die Fürsorge seines Mentors schon tot wäre, aber jedes Mal, wenn Sir Topher von der vergangenen Katastrophe anfing, hätte er ihm am liebsten zugerufen, er solle lieber nach vorne statt zurück blicken. Die Tage des Unsagbaren konnte man niemandem erklären. Während all der Jahre hatte Finnikin gelernt, nur an das Naheliegende zu denken, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Er wollte sich auf das konzentrieren, was er erreichen konnte. Ein Stück Land für die Vertriebenen aus Lumatere zu finden, das war ein erreichbares Zie l – aber nur dann, wenn man einen mildtätigen Landesherrn fand. Und der Fürst von Belegonia schien ihm von dieser Art zu sein.
    Die Novizin war begierig, Sir Tophers Geschichten zu hören. Sie legte den halb gehäuteten Hasen beiseite, hing an seinen Lippen und füllte seinen Becher, wann immer er leer war. Und Sir Topher schien sich so darüber zu freuen, dass er die Geschichte ohne Weiteres wieder von vorne erzählen konnte.
    An einer Stelle fragte Finnikin, ohne aufzublicken: „Muss sie das wirklich wissen?“
    „Das Schweigen, das uns in jedem Flüchtlingslager erwartet, ist Zeichen einer Lähmung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird“, erwiderte Sir Topher tadelnd.
    Und so hörte Finnikin die ganze Geschichte eben noch einmal: Der Feind war mitten in der Nacht gekommen. Niemand konnte sich erklären, wie die feigen Mörder an den Wachen vorbeigekommen waren, denn nur fünf Tage später waren die Grenzen versiegelt und alle Fragen blieben unbeantwortet. Einige der Attentäter hatten sich schon lange vor dieser Nacht in Lumatere aufgehalten, sie hatten sich versteckt und geplant, den Palast zu überfallen und jeden Bewohner zu töten: die Köche, die Wachen, die Kammerfrauen, die Pagen, die Kindermädchen, die Gärtner. Sir Topher war zu dieser Zeit mit dem königlichen Botschafter in Belegonia, und so fühlte er sich nun schuldig, weil er mit dem Leben davongekommen war.
    Finnikins Vater, der Hauptmann der Königlichen Garde, hatte die grausame Entdeckung gemacht. Als die zweite Wache begann, hatte er die Männer der ersten Wache tot am Eingang des Palastes liegen sehen. Er ging an den Leichen vorbei zur großen Halle, wo er den König, die Königin und die drei ältesten Prinzessinnen erschlagen fand. Verzweifelt suchten Trevanion und seine Männer nach Balthasar und Isaboe. Wenn Balthasar noch lebte, dann hieß dies, dass auch Lumatere weiterleben würde. Und es hieß auch, dass kein Fremder es wagen würde, das Königreich für sich zu beanspruchen. Die Wache des Königs durchsuchte jedes Haus im Palastbezirk, jeden Fußbreit Boden im Tiefland, sie überquerten das Gebirge, durchsuchten das Felsendorf und durchkämmten die Höhlen. Schließlich fahndeten sie auch jenseits der Wälle, die das Königreich umgaben, und da, im kalten Licht der aufgehenden Sonne, sahen sie ihn: den blutigen Abdruck einer kleinen Hand an der äußeren Festungsmauer. So als hätte Balthasar die ganze Nacht lang an die Mauer gehämmert, um wieder eingelassen zu werden in eine Welt, die schon längst aufgehört hatte zu existieren.
    Sir Topher hielt inne und Finnikin blickte auf. Wie immer, wenn er das Grauen jener Tage nochmals durchlebte, rollten auch jetzt Tränen über die Wangen des Obersten Ratgebers. Er und seine Leute hatten Leichenteile gefunden, Büschel ausgerissener Haare und schließlich die blutdurchtränkte Kleidung der jüngsten Prinzessin Isaboe.
    Die Novizin Evanjalin schien kaum noch zu atmen. Sie hatte die Hände
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