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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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unter dem Kinn wie zum Gebet gefaltet. Aber im Gegensatz zu Finnikin, der es nicht ertragen konnte, noch länger zuzuhören, flehten ihre Augen Sir Topher an weiterzusprechen.
    „Im Wald von Lumatere lebten Menschen, die Sagrami, die Göttin der Nacht, anbeteten“, fuhr Sir Topher, nachdem er sich wieder gefasst hatte, fort. „In früheren Jahrhunderten wurden sie verfolgt und mussten außerhalb der Mauern des Königreichs leben. Viele von ihnen waren Heiler, Weise und Empathen mit übernatürlichen Begabungen. Mit der Zeit kehrten viele von ihnen nach Lumatere zurück, um dort zu arbeiten.
    Die Matriarchin der Waldbewohner war eine mächtige Frau namens Seranonna. Sie war die Amme der Königin gewesen und ihr deshalb innig verbunden. Diese Freundschaft hatte der König immer respektiert.
    Aber an dem Morgen nach dem Gemetzel fand man Seranonna, und ihre Hände und ihre Kleider waren voller Blut. Die vom Leid heimgesuchten Bewohner von Lumatere behaupteten, es sei das Blut der jüngsten Prinzessin. Sie sagten, dass die Waldbewohner das Blut der Königskinder ihrer Göttin darbrächten. Die Waldbewohner erklärten schließlich, zwei von ihnen hätten gesehen, wie Balthasar in jener Nacht durch den Wald gerannt sei. Sie erzählten auch, dass Seranonna, die ihn gesucht hatte, schließlich den Leichnam Isaboes gefunden habe und ihn habe aufheben wollen. Dies allein sei der Grund, so schworen sie, weshalb das Blut des Kindes noch an Seranonnas Händen klebe.
    Aber die Dorfbewohner hörten nicht auf sie. Ihr König war tot. Ihr König, der in direkter Linie von den Göttern abstammte, seine geliebte Königin von Mon t – ebenfalls tot. Seine wunderschönen Töchter geschändet, niedergemetzelt. Seine jüngste Tochte r – in Stücke gerissen. Sein Sohn und Erb e – auch er vermisst. Seine Palastwache, sein Vol k – erschlagen. Deshalb trieben die Menschen von Lumatere all jene zusammen, die in ihrem Königreich Sagrami verehrten, brannten deren Häuser nieder und führten sie in den Wald von Lumatere, dorthin, wo auch die anderen Diener der Göttin der Nacht lebten. Nachbar kämpfte gegen Nachbar. Das Vieh wurde erschlagen, das Getreide verbrannt. Die Welt stand kopf.“
    Finnikin hatte all dies vom Dorf in den Bergen aus mit angesehen, geborgen in den Armen seiner Großtante Celestina. „Das ist das Ende der Welt“, hatte sie gejammert. „Das Ende der Welt.“
    „Am zweiten Tag ritt der Vetter des Königs mit sechshundert Mann, die meisten von ihnen Charyniten, in Lumatere ein“, fuhr Sir Topher fort. „Er hatte beinahe zehn Jahre lang am Hof von Charyn gedient. Mit dem Segen der übrigen Herrscher von Skuldenore, die den Frieden in der Region um jeden Preis bewahren wollten, wurde er als neuer König von Lumatere ausgerufen.
    Und was, glaubt ihr, war das erste Gesetz, das der Thronräuber erließ? Alle Anhänger der Göttin Sagrami wurden wegen Verrats zum Tode verurteilt. Diejenigen, die dunkle Magie betrieben, wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Menschen in Lumatere waren entsetzt. Das war doch etwas ganz anderes: Zuvor hatte man die Verehrer der Göttin Sagrami aus ihren Häusern vertrieben, jetzt tötete man sie. Aber die Lumaterer standen nur da und sahen zu, wie vollendet wurde, was sie begonnen hatten. Einer nach dem anderen, Männer, Frauen und Kinder, wurden an den folgenden drei Tagen niedergemetzelt und in ihren eigenen Häusern im Wald von Lumatere verbrannt. So lange, bis die Träume der Menschen in Lumatere sich blutrot färbten und sie ihre Häuser nicht mehr verlassen konnten, weil über dem ganzen Land der Geruch des Todes lag.“
    Die Novizin schloss die Augen, sie hielt sich sogar einen Moment lang die Ohren zu. Finnikin wusste, es gab Details, die sie sicher noch nie zuvor gehört hatte. In den Lagern der Vertriebenen, die er mit Sir Topher besuchte, sprach nie jemand über diese Zeit. Schuld und Verzweiflung machten die Menschen stumm.
    „Die Bewohner von Lumatere verließen scharenweise ihr Land“, fuhr Sir Topher fort. „Die Monts aus den Bergen, das Volk der Königin, waren schon fortgezogen, sie hatten Mitglieder ihrer Sippe im Tal der Stille in Sicherheit gebracht. Hier, außerhalb der Mauern des Königreichs, wollten sie abwarten. Die edlen Herren und Damen aus dem Tiefland gesellten sich zu ihnen, denn sie fürchteten, auf der Todesliste des Thronräubers die nächsten Kandidaten zu sein. Einige überredeten die Menschen in den Dörfern mitzukommen. Aber die Ältesten
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