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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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lasen. Finnikin hatte so etwas schon einmal gesehen, und zwar im Palast von Osteria. Dort gab es Schriften über die Geschichte der Königreiche: Sie erzählten von Göttern und Göttinnen, von Kriegen, von der Herkunft einzelner Völker, der Geografie, der Kunst, dem Essen und der Lebensweise der Menschen.
    Als Kind vertrieben, fürchtete Finnikin, dass man in seiner Heimat diese Art von Aufzeichnungen nicht mehr weiterführte. Daher hatte er selbst begonnen, das Buch von Lumatere fortzuschreiben. Er fragte sich, ob es diesen Gelehrten genauso erging wie ihm, wenn ihm der Geruch des Pergaments in die Nase stieg und er die Feder in die Hand nahm. Ihre Mienen verrieten jedoch kaum eine Regung. Die alte Ordensfrau beschleunigte ihren Schritt und führte die Besucher in eine schwach erleuchtete Säulenhalle, in deren Mitte die Hohepriesterin wartete.
    „Ehrenwerte Kiria.“ Sir Topher verbeugte sich und küsste ihre Hand.
    „Ihr habt einen langen Weg auf Euch genommen, Sir Topher.“
    Finnikin hörte Überraschung in ihrer Stimme, ja sogar Verwunderung. Wie alle Priesterinnen der Lagrami trug sie die Haare lang, fast bis zu den Knien, ein Hinweis auf die Anzahl der Jahre, die sie schon der Göttin diente. Nach ihrem Tod würde man ihr die Haare abschneiden, um sie als Opfer darzubringen, während irgendwo im Land eine Novizin mit geschorenem Haupt ihren Dienst für die Göttin antrat.
    „Die Pilger aus Lumatere, die in den vergangenen Jahren den Weg zu uns gefunden haben, haben ihr ganzes Vertrauen in den Obersten Ratgeber und seinen jungen Gehilfen gesetzt“, sagte die Priesterin und musterte beide prüfend.
    „Es ist gut, dass Ihr unserem fluchbeladenen Volk helfen wollt, ehrenwerte Kiria“, sagte Sir Topher.
    Sie lächelte freundlich. „Wir sind Nachbarn, trotz der großen Entfernung. Ich teile den Gram Eures hochverehrten Priesterkönigs, der seine Schützlinge auf eine so grausame Weise verloren hat, und ich fühle mich für Eure Leute genauso verantwortlich wie für meine. So will es die Göttin.“
    „Wisst Ihr etwas über den Verbleib unseres Priesterkönigs?“, fragte Sir Topher.
    Die Hohepriesterin schüttelte bekümmert den Kopf. Doch gleich darauf veränderte sich ihre Miene und sie machte ein paar Schritte durch die Halle. Mit einer Geste bedeutete sie den Besuchern, ihr zu folgen. „Ihr seid wegen des Mädchens gekommen?“, fragte sie.
    Mädchen. Finnikin ließ enttäuscht die Schultern sinken. Also hatte er sich nur einer trügerischen Hoffnung hingegeben. Zorn über seine Leichtgläubigkeit ergriff ihn.
    „Wir haben nur wenig Zeit bis zur Flut, deshalb werde ich mich kurzfassen“, sagte die Hohepriesterin mit gedämpfter Stimme. „Vor zwei Jahren kam im Frühling ein Mädchen zu uns. Ihr Name war Evanjalin. Im Gegensatz zu den meisten Novizinnen aus Lumatere war sie nicht während der Fünf Tage des Unsagbaren Waise geworden, sondern gehörte zu den Flüchtlingen, die in Sarnak Zuflucht gefunden hatten.“
    Finnikin zuckte zusammen und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass Sir Topher ganz blass geworden war. Die Hohepriesterin nickte. „Wie ich sehe, wisst Ihr Bescheid.“
    „Wir haben den König von Sarnak dazu aufgefordert, diejenigen zu bestrafen, die das Massaker verübt haben“, sagte Sir Topher.
    Finnikin fragte sich im Nachhinein, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatten. Was kümmerte es einen teilnahmslosen König, ob vor zwei Jahren Flüchtlinge aus Lumatere abgeschlachtet worden waren?
    Die Hohepriesterin beugte sich vor und flüsterte: „Die Novizin Evanjalin hat eine außerordentliche Gabe. Ich bin schon vielen begegnet, die von sich behaupteten, eine Gabe zu besitzen, aber ich versichere Euch, dieses Mädchen sagt die Wahrheit. Sie sagt, dass sie nicht nur in den Träumen unseres geliebten Thronerben gewandelt sei, sondern auch in jenen der Unterdrückten in Lumatere.“
    So etwas Verrücktes hatte Finnikin noch nie gehört und nur mit größter Mühe konnte er sich eine verächtliche Bemerkung verkneifen.
    „Es überrascht mich nicht, dass sie behauptet, Prinz Balthasar sei am Leben“, sagte Sir Topher. Er räusperte sich, ein Zeichen, das Finnikin zur Zurückhaltung mahnte. „Wir haben nie die Hoffnung aufgegeben, dass diese Gerüchte stimmen. In den vergangenen zehn Jahren sind immer wieder Männer aufgetaucht, die Anspruch auf den Thron von Lumatere erhoben haben. Aber jedes Mal haben sich diese vermeintlichen Prinzen als falsch
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