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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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richtigen Stufen mehr, sondern lediglich unbehauene Steine. Früher oder später, so fürchtete Finnikin, würden sie wohl auf allen vieren hinaufkriechen müssen, um zum Boten der Hohepriesterin zu gelangen, der oben auf sie wartete. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt, als vor ihnen nurmehr der blanke Fels aufragte, in den in Abständen Metallhaken geschlagen worden waren. Verwirrt blieb Finnikin stehen. Er blickte auf seine großen Füße und fragte sich, wie um alles in der Welt er auf so schmalen Tritten Halt finden sollte.
    „Die Haken sind nicht für die Füße, mein Junge“, sagte Sir Topher seufzend und fuchtelte mit der Hand vor Finnikins Nase herum.
    Gütiger Himmel.
    „Sieh nicht nach unten“, warnte er Finnikin. Dann fing Sir Topher an zu klettern. Kleine Gesteinsbrocken rieselten auf Finnikin herab, jedes Mal wenn Sir Topher sein Gewicht verlagerte. Feiner Staub setzte sich in Finnikins Augenwinkeln fest, aber er widerstand der Versuchung, ihn wegzuwischen; lieber eine getrübte Sicht, als den Halt zu verlieren.
    „Ich hab doch gesagt, du sollst nicht nach unten schauen!“, ächzte Sir Topher.
    „Ja, aber wenn ich hinaufschaue, kommt mir das Essen hoch“, keuchte Finnikin.
    „Das wäre allerdings schade. Diese Unmengen an köstlichem Gänseklein und Kaninchenpastete, die du trotz meiner Warnungen in dich hineingeschlungen hast. Was für eine Verschwendung.“
    Finnikin hielt inne, ihm schwindelte und er hatte einen widerlichen Geschmack auf der Zunge. Der Gestank von Taubendreck stieg ihm in die Nase und sofort drehte sich ihm der Magen um. Seine Hände taten weh von den scharfkantigen Metallhaken, und er sehnte sich danach, festen Boden unter den Füßen zu haben. Er konnte nur hoffen, dass sie oben etwas erwartete, was den mühevollen Aufstieg rechtfertigte.
    Irgendwie war es der Hohepriesterin gelungen, Finnikin und Sir Topher in Belegonia ausfindig zu machen. Ein schweres Unterfangen, denn die beiden hatten sich geschickt verborgen.
    Schon seit zehn Jahren versuchten Sir Topher und Finnikin die Lebensbedingungen der Flüchtlinge aus Lumatere zu verbessern. Die Exilanten hatten in hoffnungslos überbelegten Lagern gegen Fieberseuchen, Angst und Verzweiflung zu kämpfen. Jene Herzöge von Lumatere, die sich an fremden Höfen verdingten, hatten die beiden immer wieder zu sich gerufen, um ihnen ihre Unterstützung zuzusichern.
    Weniger edelmütig hingegen waren Hilfsangebote benachbarter Könige und Königinnen, die zumeist eine Gegenleistung erwarteten. Oft mussten die Flüchtlinge erst einmal genau darüber Auskunft geben, was in den angrenzenden Reichen vor sich ging, bevor ihnen die Landesherren Schutz gewährten und sie an Flussufern und in Tälern ihr Lager aufschlagen ließen. Das höfische Protokoll verschaffte dem Obersten Ratgeber und seinem Gehilfen zwar Zugang zu den Palästen, aber Sir Topher war mit der Zeit vorsichtig geworden.
    Mit der Einladung in den Tempel der Lagrami verhielt es sich jedoch anders. Alles hatte angefangen mit einem Namen, der Finnikin mitten in der Nacht zugeflüstert wurde, als er in Belegonia zwischen den anderen Flüchtlingen lag.
    Balthasar.
    Finnikin hatte sofort Sir Topher aufgeweckt. Er konnte nicht mehr genau sagen, wie der Bote ausgesehen hatte, im Grunde erinnerte er sich nur an die Stimme, die an sein Ohr gedrungen war, und an die Umrisse einer Gestalt, die ihn aufgefordert hatte, in ein abgelegenes Kloster in Sendecane zu gehen. Kaum hatte Finnikin zu Ende gesprochen, war Sir Topher aufgestanden und hatte schweigend sein Bündel geschnürt.
    Finnikin erreichte als Erster den Gipfel. Er verharrte einen Augenblick vornübergebeugt, um Atem zu schöpfen, ehe er dem keuchenden Sir Topher zu Hilfe kam. Ein Geräusch ließ beide herumfahren: Vor einem Mauerdurchgang stand eine weißhaarige Ordensfrau. Ohne ein Wort drehte sie sich um und verschwand im Inneren des Klosters. Die beiden betrachteten dies als Aufforderung, ihr zu folgen.
    Aufgrund seiner Körpergröße musste Finnikin in gebückter Haltung den Tunnel durchqueren, der zu einer schmalen Wendeltreppe führte. Oben angekommen, folgten sie der Frau durch einen Gang, vorbei an Kammern, in denen Novizen im Gebet versunken auf dem Boden knieten. Schließlich gelangten sie in einen großen Raum mit hohen Fenstern, die viel Licht hereinließen. Hier waren Tische aufgereiht, an denen Novizen arbeiteten. Einige saßen über Manuskripte gebeugt und kopierten sie, andere
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