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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind
Autoren: L Mer
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Ganz gleich, wann mein Mann zurückkommt. Nehmen Sie ein scharfes Messer“, sie nickte zum Spiegel hinüber, beobachtete die spiegelnde Fläche aus den Augenwinkeln. „Nehmen Sie ein Messer und brechen Sie die restlichen Steine heraus. Wir werden Geld brauchen, viel Geld. Sie werden Geld brauchen. Um alle zu versorgen, fürs Erste.“
    Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen lachte Marek.
    „Ach, Gnädigste“, sagte er und fuhr sich durch die Haare, „das Angebot spricht für Sie, aber was solln wir mit den Klunkern?“
    „Marek“, sagte Sophie verdutzt, „wollen Sie jetzt doch noch den Helden spielen? Das ist der falsche Zeitpunkt dafür.“
    Er schüttelte den Kopf. „Sie verstehn nicht, Frolleinchen. Hamse noch den einen losen bei sich? Gebense ihn mal her.“
    Verwundert sah Blanka, wie Sophie etwas aus ihrer Rocktasche zog.
    „Entschuldigen Sie, gnädige Frau“, murmelte sie dabei, „ich wollte …“
    „Was solls, Frolleinchen“, unterbrach sie Marek und nahm ihr den Gegenstand ab. „Das kümmert jetzt doch keinen mehr. Hier, Gnädigste, und sie auch, Frolleinchen. Guckense mal.“
    Er hielt den Gegenstand auf der offenen Handfläche. Es war einer der Edelsteine aus dem Spiegel. Kleine rote Flecken waren darauf; Blanka sah, dass seine Hand blutete.
    „Was ist“, begann sie, aber Marek ließ den Stein plötzlich fallen, und bevor irgendjemand reagieren konnte, war er schon daraufgetreten. Ein hässliches Knirschen erklang. Marek zog den Fuß zurück.
    „Glas“, stießen Blanka und Sophie gleichzeitig hervor. „Glas!“
    Marek nickte ernst.
    „Ich wusste das sofort. Ich bin Glasmacher, schon vergessen? Die anderen werden auch alle aus Glas sein.“
    „Oh Gott“, sagte Sophie schwach und sank auf das Bett. „Was sollen wir denn jetzt machen? Es ist alles zerstört! Und dann – der gnädige Herr – er ist völlig umsonst in die Stadt gefahren!“
    Blanka schaute vom einen zum anderen. War es wirklich so? Würde sie alles verlieren? Ihre Kleider, ihre Pelze – das Herrenhaus? Was sie beschützt hatte, so lange Zeit? Diese steinerne Haut über ihrer eigenen Haut … Die alles ferngehalten hatte. Alles.
    Sie blieb seltsam ruhig, sah auf Johanna hinunter, die inzwischen friedlich schlief. Johanna, deren Wangen schon wieder ihre übliche sanftrote Farbe annahmen. Und statt Angst spürte sie etwas, was sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte. Es war so leicht, fast eine Art Schweben …
    Sie stand auf. „Marek, bitte schieben Sie den Spiegel zum Fenster. Und Sophie, bitte öffnen Sie es für mich.“
    Sie starrten sie einen Moment sprachlos an. Blanka nickte nachdrücklich. „Bitte sehr.“
    Der Spiegelrahmen kratzte über die Dielen. Die Fensterflügel knarrten. Kalte, rauchige Luft fuhr ins Zimmer, spielte mit den Vorhängen. Blanka trat zum Spiegel, ließ den Blick lange stumm in seinen verschleierten Tiefen versinken. Dann, nach einem Zögern, das nur einen Wimpernschlag dauerte, streifte sie mit einem Ruck beide Handschuhe ab und legte die bloßen Hände an das Holz. Neben sich hörte sie Sophie hastig einatmen.
    „Gnädige Frau“, murmelte sie, „Ihre Hände …“
    „Ich weiß“, sagte Blanka. „Sie sind sehr hässlich. Ich kann es nicht ändern.“
    „Nein“, sagte Sophie noch leiser. „Sie sind – sehr gefährlich, wissen Sie. Diese Flecken, meine ich. Es können daraus“, Blanka hörte, wie sie schauderte, „andere – Dinge entstehen. Irgendwann. Andere, schlechte Dinge.“
    Schlechte Dinge? Blanka sah wieder zu Johanna hinüber. Wie sehr hatte das Mädchen sich vor diesen Flecken gefürchtet … Blanka fühlte, hier war viel, was sie noch nicht verstand. Aber sie würde es verstehen. Eines Tages.
    Sie packte den Spiegel fest mit beiden Händen. Täuschte sie sich, oder vibrierte das Spiegelglas schwach unter ihrem Griff?
    Irgendwo draußen, in der Richtung des Dorfes, klingelten Schlittenglöckchen in den Abendschleiern.
    „Papa kommt“, murmelte Johanna im Halbschlaf. „Papa kommt.“
    „Gnädigste“, sagte Marek, „was auch immerse da vorhaben: Das Riesenbiest kriegense alleine nie hoch.“
    Sophie stellte sich neben Blanka.
    „Das braucht sie auch nicht. Ich helfe ihr.“
    Marek warf einen Blick aus dem offenen Fenster.
    „Es ist niemand unten. Wennse wirklich glauben, dasse das können – jetzt wär der Moment dafür.“
    Die beiden Frauen sahen sich an. Es lag viel in diesem Blick, viele Fragen, die Antworten brauchen würden, irgendwann.
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