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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind
Autoren: L Mer
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Haut am Knochen, Haut wie altes Leder, fleckig, hart, und da, da! Haarsträhnen, die aus der toten Haut sprossen, die noch daran hingen, blonde Haarsträhnen, die Reste eines Mädchenzopfs! Und in dem Mädchenzopf, wie ein grausiger Schmuck, ein schmutzig weißer Fetzen. Ein Fetzen aus einem Stoff, so steif gestärkt, dass kein Tier ihn hatte annagen mögen. So steif, so steif wie ein – Dienstmädchenhäubchen …
    Blanka schrie.

    Mühsam setzte Sophie sich auf. Überall um sie herum kauerten Arbeiter auf dem Boden, hielten die Arme über den Kopf. Aber der Trümmerregen hatte aufgehört. Marek lag ein Stück von ihr entfernt, auf halbem Weg zum Turm. Er bewegte sich. So gut es ging, kroch Sophie zu ihm.
    „Marek – Marek“, stammelte Sophie. Er richtete sich auf, sein linkes Auge schwoll schon zu.
    „Der Turm – sehense bloß, der Turm …“
    Sie sah nach oben, wischte sich hastig Funken aus den Haaren. Der oberste Teil des Turms, dort, wo der riesige Kegel sich zur Spitze hin verjüngte, war abgerissen. Flammen loderten aus dem zerfetzten Schlot.
    Sophie presste beide Hände auf den Mund, schmeckte Rauch und Dreck und Schweiß.
    „Willem“, wimmerte es hinter den Fingern aus ihr heraus. „Willem!“
    Marek wandte den Blick ab.
    „Ich weiß“, murmelte er.
    Es krachte in der Werkshalle, Sophie zuckte zusammen und riss die Arme hoch.
    „Das Dach stürzt ein“, sagte Marek leise. „Da ist nichts mehr zu retten.“
    Er verbarg das Gesicht in den Händen.
    „Warum“, flüsterte Sophie, „warum hat er das nur getan? Es war doch so – so sinnlos, so gefährlich …“
    „Helden tun sowas eben“, murmelte Marek, kaum hörbar. „Helden versuchen zu retten, auch wenn’s vielleicht nicht klappt. Feiglinge laufen weg. So ist das.“
    Es klang bitter wie der Rauch, den sie atmeten. Sophie hustete. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Gab es überhaupt irgendetwas, was man sagen konnte?
    Die Arbeiter auf dem Vorplatz schienen langsam wieder zu sich zu kommen. Zwei, drei waren schon auf den Beinen, wanderten herum, suchten nach Verletzten. Irgendwo stöhnte jemand; ein anderer weinte würgend, und in der Nähe betete das Spülmädchen, den Waschkessel, noch immer halb voll Schnee, mit beiden Armen umklammert. Direkt vor Sophie blies der Turm weiter Flammen in den Himmel. Der Wind riss an ihnen, bis sie wie rote und gelbe Fahnen wirkten. Siegesfahnen über einem Schlachtfeld …
    Sophie wandte das Gesicht ab. Unten, am Fuß des Hügels, stand das Herrenhaus; sie zuckte innerlich zusammen, als ihr Blick darauf fiel. Wie konnte sie es nur vergessen haben? Schnell stand sie auf, so gut es ging, schwankte, als ihr schwindelig wurde. Das Gebäude wirkte unversehrt, Dach und Wände schienen alle an ihrem Platz zu sein. Nirgendwo waren Flammen zu sehen. Und doch … Irgendetwas war seltsam, nicht so, wie es sein sollte. Irgendetwas …
    „Die Fenster!“, stöhnte Sophie. „Oh mein Gott, die Fenster! Auf dieser Seite sind sie alle zerborsten! Johanna – Lieschen – Johanna!“ Ihr knickten die Knie ein. Der Boden raste ihr entgegen, sie schaffte es gerade noch, den Sturz mit den Händen abzufangen. „Johanna! Warum bin ich nur – oh Gott, Johanna!“
    Tränen schossen ihr aus den Augen – jetzt, erst jetzt.
    „Ruhig, Frolleinchen.“ Marek tauchte neben ihr auf, legte den Arm um sie, zog sie wieder hoch. „Ganz ruhig. Sie wissen doch gar nicht …“
    „Da, schauen Sie doch!“ Sophie streckte eine zitternde Hand aus. „Das Kinderzimmerfenster, im Dachboden! Völlig zerstört! Und das Bett steht so nah … Ich hätte niemals weggehen dürfen! Ich hätte – ich hätte …“
    Sie bekam keine Luft mehr, das Entsetzen drückte ihr den Hals zu. Marek hielt sie fest.
    „Ich muss nach unten“, brachte sie heraus. „Jetzt, sofort. Nach unten.“
    Er ließ sie nicht los.
    „Ich weiß“, sagte er. „Ich komm mit Ihnen. Da solltense nich allein hingehn. Sie ham uns geholfen – jetzt helf ich Ihnen.“

    „Mama, bitte, bitte schrei nicht mehr, Mama. Ich will doch brav sein, ich will alles tun, was du sagst!“
    Die Stimme kam von irgendwoher, aus dem rauschenden, brausenden, schwarzen Nichts, das Blanka umtoste. Sie war wie ein Lichtstrahl in der Finsternis. Blanka streckte die Hände danach aus.
    „Elsbeth“, stammelte sie, „Elsbeth!“
    „Nein, Mama, ich bin es, ich bin es doch, deine Johanna! Mama, ich bin hier, hörst du mich denn nicht?“
    „Elsbeth“, murmelte Blanka, und Tränen quollen
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