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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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Beine, zwei Füße. Dies, und dann das. Das, und dann dies. Schreiben beginnt im Körper, es ist die Musik des Körpers, und auch wenn die Worte Bedeutung haben, manchmal Bedeutung haben können, ist es die Musik der Worte, wo die Bedeutungen beginnen. Du sitzt an deinem Schreibtisch, um die Worte niederzuschreiben, aber im Kopf gehst du immer noch, gehst du weiter, und was du hörst, ist der Rhythmus deines Herzens, das Schlagen deines Herzens. Mandelstam: «Ich frage mich, wie viele Sandalen Dante während seiner Arbeit an der
Commedia
durchgelaufen hat.» Schreiben als mindere Form von Tanz.
     
    Als du vor neunzig Seiten deine Reisen aufzähltest, hast du die Fahrten zwischen Brooklyn und Manhattan vergessen, einunddreißig Jahre, in denen du seit deinem Umzug nach Kings County im Jahr 1980 innerhalb deiner Stadt gereist bist, durchschnittlich zwei- oder dreimal die Woche, was sich zu mehreren tausend Fahrten addiert, viele davon unterirdisch mit der Subway, aber viele andere hin und zurück mit Autos oder Taxis über die Brooklyn Bridge, tausend Überquerungen, zweitausend Überquerungen, fünftausend Überquerungen, unmöglich zu sagen, wie viele, aber mit Sicherheit ist es die Strecke, die du öfter als jede andere in deinem Leben zurückgelegt hast, und nicht ein einziges Mal hast du es versäumt, die Architektur der Brücke zu bewundern, die eigenartige, aber ganz und gar befriedigende Mischung aus Alt und Neu, die diese Brücke von allen anderen unterscheidet, die dicken Quader der mittelalterlichen gotischen Bögen in Kontrast zu und doch in Einklang mit den zarten Spinnweben der Stahlkabel, einst das größte von Menschenhand errichtete Bauwerk Amerikas, und in den alten Zeiten, bevor die Selbstmordattentäter New York heimsuchten, war dir die Fahrt von Brooklyn nach Manhattan immer die liebere gewesen, die Vorfreude auf die eine Stelle, von wo aus du gleichzeitig die Freiheitsstatue im Hafen linker Hand und die Skyline von Downtown Manhattan genau vor dir aufragen sehen konntest, die ungeheuren Gebäude, die plötzlich in Sicht sprangen, darunter natürlich die Zwillingstürme, die unschönen Türme, die allmählich zu einem vertrauten Teil der Landschaft wurden, und sosehr du, wann immer du dich Manhattan näherst, die Skyline noch immer bestaunst, kannst du jetzt, da die Türme verschwunden sind, die Fahrt nicht mehr machen, ohne an die Toten zu denken, an den Anblick der brennenden Türme vom Zimmer deiner Tochter im obersten Stock eures Hauses aus, an den Rauch und die Asche, die nach dem Angriff drei Tage lang über den Straßen deines Viertels niedergingen, und an den beißenden, unerträglichen Gestank, der euch zwang, alle Fenster im Haus geschlossen zu halten, bis der Wind am Freitag endlich von Brooklyn abdrehte, und obwohl du in den neuneinhalb Jahren seither weiterhin zwei- oder dreimal die Woche die Brücke überquert hast, ist die Fahrt nicht mehr dieselbe, die Toten sind immer noch da, auch die Türme sind noch da – pulsieren in der Erinnerung, anwesend als leeres Loch im Himmel.
     
    Du hast die Toten nach dir rufen hören – aber nur ein einziges Mal, einmal in all den Jahren, die du am Leben bist. Du zählst nicht zu denen, die Dinge sehen, die nicht da sind, und sosehr dich manches verwirrt, was du siehst, neigst du doch nicht zu Halluzinationen oder absurden Verdrehungen der Wirklichkeit. Dasselbe gilt für deine Ohren. Hin und wieder glaubst du bei einem deiner Spaziergänge durch die Stadt die Stimme deiner Frau, deiner Tochter oder deines Sohnes deinen Namen über die Straße rufen zu hören, aber wenn du dich danach umdrehst, ist es jedes Mal jemand anders, der
Paul
oder
Dad
oder
Daddy
sagt. Vor zwanzig Jahren jedoch, vielleicht vor fünfundzwanzig Jahren, hast du unter Umständen, die weit vom Strom deines täglichen Lebens entfernt waren, eine akustische Halluzination erlebt, die dir noch heute Kopfzerbrechen bereitet, so deutlich und stark war sie, so laut waren die Stimmen, die du hörtest, auch wenn der Chor der Toten nur für höchstens fünf oder zehn Sekunden in dir aufschrie. Du warst in Deutschland, übers Wochenende in Hamburg, und am Sonntagmorgen machte dein Freund Michael Naumann, der auch dein deutscher Verleger war, den Vorschlag, ihr zwei solltet nach Bergen-Belsen fahren – oder genauer, dorthin, wo Bergen-Belsen einst gewesen war. Du wolltest mit, auch wenn etwas in dir dem widerstrebte, und du erinnerst dich an die Fahrt an jenem bewölkten
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