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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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Kuchen warst du immer zu haben (Schokoladenschichttorte! Biskuitkuchen!), für jede Art von Keksen, Vanilla Fingers und Burry’s Double Dip Chocolate, Fig Newtons und Mallomars, Oreos und Social Tea Biscuits, zu schweigen von den Hunderten, wenn nicht Tausenden von Schokoriegeln, die du vor deinem zwölften Lebensjahr verzehrt hast: Milky Ways, Three Musketeers, Chunkys, Charleston Chews, York Mints, Junior Mints, Mars, Snickers, Baby Ruths, Milk Duds, Chuckles, Goobers, Dots, Jujubes, Sugar Daddys und weiß Gott was sonst noch. Wie ist es möglich, dass du in den Jahren dieses ungeheuren Zuckerkonsums immer schlank geblieben bist, dass dein Körper auf dem Weg in die Pubertät irgendwie weiter in die Höhe und nicht in die Breite gewachsen ist? Zum Glück liegt das alles jetzt hinter dir, doch ab und zu, vielleicht einmal alle zwei oder drei Jahre, während du vor einem Langstreckenflug im Flughafen die Zeit totschlägst (aus irgendeinem Grund passiert das nur in Flughäfen) und in den Zeitschriftenladen gehst, um dir eine Zeitung zu holen, packt dich plötzlich ein uraltes Verlangen, und dann senkst du den Blick auf die Auslage neben der Kasse, und sollten dort zufällig Chuckles liegen, kaufst du dir welche. Und binnen zehn Minuten sind die fünf Geleebonbons weg. Rot, gelb, grün, orange und schwarz.
     
    Joubert:
Das Ende des Lebens ist bitter
. Nicht einmal ein Jahr nachdem er mit einundsechzig, was 1815 sicher für wesentlich älter gehalten wurde als heute, diese Worte zu Papier gebracht hatte, notierte er eine ganz andere und viel provozierendere Bemerkung über das Ende des Lebens:
Man muss liebenswert sterben (wenn man kann)
. Dieser Satz bewegt dich, besonders die Worte in Klammern, die dir von einem seltenen Feingefühl zu künden scheinen, von einem hart erkämpften Wissen darum, wie schwierig es ist, liebenswert zu sein, insbesondere für einen alten Menschen, der immer hinfälliger wird und auf die Hilfe anderer angewiesen ist.
Wenn man kann
. Wahrscheinlich kann ein Mensch nichts Größeres leisten, als am Ende liebenswert zu sein, sei das Ende nun bitter oder nicht. Das Sterbebett mit Pisse, Scheiße und Sabber beschmutzen. Wir alle sind auf dem Weg dorthin, sagst du dir, die Frage ist nur, bis zu welchem Grad man im Zustand der Hilflosigkeit und des Verfalls ein Mensch bleiben kann. Du kannst nicht voraussagen, was geschehen wird, wenn der Tag für dich kommt, da du zum letzten Mal ins Bett kriechst, aber falls es dich nicht plötzlich erwischt, möchtest du liebenswert sein.
Wenn du kannst
.
     
    Erwähnt werden muss auch dies: 1971 bist du beinahe an einer Gräte erstickt, und 2006 bist du nur knapp dem Tode entronnen, als du eines Abends in einem dunklen Flur mit der Stirn an einen niedrigen Türrahmen geknallt, vor Schreck nach hinten gestolpert und bei dem Versuch, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, nach vorn getaumelt, mit einem Fuß an der Schwelle hängengeblieben und mit dem Gesicht voran auf den Fußboden der Wohnung, die du betreten wolltest, gesegelt bist, wobei dein Kopf nur wenige Zentimeter von einem dicken Tischbein entfernt landete. Tagtäglich sterben in jedem Land der Welt Menschen bei solchen Stürzen. Zum Beispiel der Onkel eines Freundes, derselbe Mann, über den du vor neunzehn Jahren geschrieben hast (
Das rote Notizbuch
, Geschichte Nr.  3 ), der im Zweiten Weltkrieg als Partisan im Widerstand gegen die Nazis Schussverletzungen und zahlreiche Gefahren überlebte, ein junger Mann, dem es mit verblüffender Regelmäßigkeit gelang, dem Tod und/oder schweren Verstümmelungen zu entgehen, der, als der Krieg vorbei war, nach Chicago zog und fern von den Schlachtfeldern, Kugelhageln und explodierenden Landminen seiner Jugend ein beschauliches Leben im friedlichen Amerika führte und der dann eines Nachts aufwachte und beim Gang zur Toilette im dunklen Wohnzimmer über ein Möbelstück stolperte, mit dem Kopf an ein dickes Tischbein krachte und starb. Ein absurder Tod, ein unsinniger Tod, ein Tod, den auch du vor fünf Jahren hättest erleiden können, wenn dein Kopf nur wenige Zentimeter weiter links gelandet wäre, und wenn du daran denkst, auf welch lächerliche Art manche Leute ums Leben kommen – Treppen hinabstürzen, von Leitern abrutschen, ertrinken, von Autos überfahren, von verirrten Kugeln getroffen, durch Stromschlag von Radios, die in Badewannen fallen, getötet werden –, kannst du nur zu dem Schluss kommen, dass jeder im Lauf seines Lebens mehrmals dem Tod
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