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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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hielt sich, was die christlichen Traditionen betraf, eher an die Regeln jenes Teils der Welt als an die hiesigen. Deine Schwiegermutter, 1923 in der südlichsten Stadt Norwegens geboren, kam erst mit dreißig über den Atlantik, und obwohl sie fließend Englisch spricht, hat sie in dieser zweiten Sprache einen ausgeprägten norwegischen Akzent beibehalten. Als junge Frau durchlebte sie den Krieg und die deutsche Besatzung, mit siebzehn kam sie nach der Teilnahme an einer frühen Demonstration gegen die Nazis für neun Tage ins Gefängnis (wäre das später im Krieg passiert, sagt sie, hätte man sie in ein Lager geschickt), und beide ihrer älteren Brüder waren im Untergrund aktiv (einer von ihnen ist, nachdem seine Zelle geknackt wurde, auf Skiern nach Schweden gegangen, um der Gestapo zu entkommen). Deine Schwiegermutter ist eine kluge, belesene Frau, für die du große Bewunderung und Zuneigung empfindest, aber ihre gelegentlichen Schwierigkeiten mit der englischen Sprache und der Geographie Amerikas haben zu einigen merkwürdigen Szenen geführt, keine davon vielleicht komischer als die an einem Abend vor fünfzehn oder sechzehn Jahren, als das Flugzeug, mit dem sie und ihr Mann nach Boston wollten, wegen Nebels dort nicht landen konnte und daher nach Albany, New York, umgeleitet wurde; in Albany angekommen, rief sie deine Frau an und berichtete: «Wir sind in Albanien! Wir müssen in Albanien übernachten!» Was deinen Schwiegervater anbetrifft, so war auch er durch und durch Norweger, dabei aber schon Amerikaner in der dritten Generation, geboren 1922 in Cannon Falls, Minnesota, letztes Präriekind des 19 . Jahrhunderts, ein Bauernjunge, aufgewachsen in einem Blockhaus ohne Strom und sanitäre Einrichtungen, und die ländliche Gemeinschaft, in der er lebte, war so isoliert, so einheitlich von norwegischen Einwanderern und ihren Nachkommen bevölkert, dass seine Kindheit sich hauptsächlich auf Norwegisch und nicht auf Englisch abspielte, weshalb auch er bis ins hohe Alter seinen norwegischen Akzent behielt: keinen so starken Akzent wie deine Schwiegermutter, sondern eher einen weichen, melodischen Tonfall, ein amerikanisches Englisch, wie du es nie von jemand anderem gehört hast und das dir immer sehr angenehm in den Ohren geklungen hat. Nach der langen Unterbrechung durch den Krieg schloss er dank eines GI -Stipendiums das College ab und konnte studieren, verbrachte ein Fulbright-Jahr an der Universität Oslo (wo er und deine Schwiegermutter sich kennenlernten) und wurde schließlich Professor für norwegische Sprache und Literatur. Deine Frau wuchs also in einem norwegischen Haushalt auf, auch wenn der zufällig in Minnesota lag, und folglich war auch das Weihnachtsessen in jeder Beziehung norwegisch. Im Wesentlichen war es eine Kopie der Weihnachtsessen, die deine Schwiegermutter in den 1920 er und 30 er Jahren als Kind mit ihrer Familie in Südnorwegen gefeiert hatte, zu einer Zeit also, die ganz anders war als unsere von Überfluss geprägte Gegenwart, wo in den Supermärkten zweihundert Sorten Frühstücksflocken und Eiscreme in vierundachtzig Geschmacksrichtungen zu haben sind. Das Essen war immer das gleiche, und in dreiundzwanzig Jahren wurde der Speisefolge kein einziges Mal etwas hinzugefügt oder abgezogen. Nicht Truthahn oder Gans oder Schinken, wie man als Hauptgang erwarten könnte, sondern Schweinerippchen, leicht gesalzen und gepfeffert, im Ofen gebacken und ohne Soße und Gewürze serviert. Dazu gab es Salzkartoffeln, Blumenkohl, Rotkohl, Rosenkohl, Möhren und Preiselbeeren, zum Nachtisch Reispudding. Kein Essen konnte schlichter sein als dieses und trotziger im Gegensatz zu zeitgenössischen amerikanischen Vorstellungen von dem stehen, was ein akzeptables Feiertagsmahl ausmachen sollte, und doch, als du vor ein paar Jahren die jüngsten deiner Nichten und Neffen befragtest (die Tradition wird in New York fortgeführt), ob ihnen das Weihnachtsessen gefalle, wie es sei, oder ob sie lieber etwas daran ändern würden, riefen sie alle: «Nichts verändern!» Essen als Ritual, das die Familie zusammenhält – ein symbolischer Anker, der verhindert, dass man aufs offene Meer hinaustreibt. Das ist der Stamm, in den du eingeheiratet hast. Mit fünfzehn erfand deine geistreiche Tochter einen neuen Ausdruck, um ihre Herkunft zu beschreiben:
Jew-wegian
. Sicher gibt es nicht viele Menschen, die von sich behaupten können, ein Mischling dieser speziellen Art zu sein, aber schließlich leben wir in
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