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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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von der Schippe springt, dass jeder, der es bis in das Alter schafft, das du jetzt erreicht hast, bereits einige Male einem potenziell absurden, unsinnigen Tod entronnen ist. Alles im Zuge dessen, was man ein
gewöhnliches Leben
nennt. Selbstverständlich haben Millionen andere Schlimmeres erfahren müssen, haben nicht den Luxus gehabt, ein gewöhnliches Leben führen zu können, Soldaten im Kampfeinsatz, zum Beispiel, zivile Kriegsopfer, die ermordeten Opfer totalitärer Regierungen und die zahllosen anderen, die bei Naturkatastrophen ums Leben kamen: Überschwemmungen, Erdbeben, Taifune, Epidemien. Dabei sind die Überlebenden von Katastrophen den Launen des Alltags nicht weniger ausgesetzt als diejenigen von uns, denen solche Schrecken erspart geblieben sind – wie der Onkel deines Freundes, der dem Tod in der Schlacht entging und eines Nachts auf dem Weg zur Toilette in einer Chicagoer Wohnung starb. 1971 blieb dir die Gräte tief im Hals stecken. Du glaubst ein Heilbuttfilet vor dir auf dem Teller zu haben und siehst daher keinen Anlass, besonders auf Gräten zu achten, aber plötzlich kannst du nicht mehr ohne Schmerzen schlucken, du hast etwas
dadrin
, und keins der traditionellen Rezepte hilft auch nur im Geringsten: Wasser trinken, Brot essen, die Gräte mit den Fingern herauszuziehen versuchen. Die Gräte ist zu tief in deinen Hals gerutscht, und sie ist so lang und so dick, dass sie sich auf beiden Seiten in die Haut bohren konnte, und bei jedem Versuch, sie herauszuhusten, ist dein Speichel rot von Blut. Es ist April oder Mai, du lebst seit zwei oder zweieinhalb Monaten in Paris, und als dir klarwird, dass du die Gräte alleine nicht wirst herausbringen können, verlässt du, zusammen mit deiner Freundin, die Wohnung in der rue Jacques Mawas und gehst zur nächstgelegenen medizinischen Einrichtung, l’Hôpital Boucicaut. Es ist acht oder neun Uhr abends, und die Krankenschwestern haben keine Ahnung, was sie mit dir anfangen sollen. Sie spritzen dir ein flüssiges Betäubungsmittel in den Schlund, sie plaudern mit dir, sie lachen, aber die Gräte sitzt fest und lässt sich nicht herausziehen. Gegen elf erscheint endlich der für nächtliche Notfälle zuständige Arzt zum Dienst, ein junger Mann mit Namen Meyer, noch so ein Israelit in dieser Gegend, in der früher der blinde Klavierstimmer gelebt hatte, und siehe da, dieser junge Arzt, höchstens vier oder fünf Jahre älter als du, erweist sich als Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist. Nachdem du während der Voruntersuchung ein wenig Blut für ihn gespuckt hast, fordert er dich auf, ihm über den Hof in seine Privatpraxis in einem anderen Flügel des Krankenhauses zu folgen. Du setzt dich auf einen Stuhl, er setzt sich auf einen Stuhl und klappt ein großes Lederetui auf, darin sind dreißig oder vierzig Pinzetten, ein beeindruckendes Sortiment silbern glänzender Instrumente, Pinzetten in jeder denkbaren Größe und Form, einige mit geraden Spitzen, einige mit gebogenen Spitzen, einige mit hakenförmigen Spitzen, einige mit verdrehten Spitzen, einige mit schlingenförmigen Spitzen, einige kurz und einige lang, einige so kompliziert und bizarr, dass du dir gar nicht vorstellen kannst, was so ein Ding in der Kehle eines Menschen zu suchen haben kann. Er sagt, du sollst den Mund aufmachen, und dann führt er eine nach der anderen verschiedene Arten von Pinzetten behutsam in deine Speiseröhre ein – so tief hinein, dass du würgen musst und jedes Mal, wenn er wieder eine herauszieht, mehr Blut ausspuckst. Ganz ruhig, sagt er, ganz ruhig, das kriegen wir schon hin, und dann, beim fünfzehnten Versuch, diesmal mit der größten Pinzette, einem Monstrum mit einem grotesk übertriebenen Krummsäbel von Haken an der Spitze, bekommt er die Gräte zu fassen, packt sie, zieht sie sachte ruckelnd hin und her, um die in dein Fleisch eingebohrten Enden zu lösen, und bugsiert sie durch den Tunnel deiner Kehle und schließlich ins Freie. Seine Miene drückt Freude und Verblüffung aus. Freude über seinen Erfolg, Verblüffung über die Größe der Gräte, die gut acht bis zehn Zentimeter lang ist. Du selbst bist genauso verblüfft. Wie hast du einen so riesigen Gegenstand verschlucken können?, fragst du dich. Das Ding erinnert dich an eine Eskimo-Nähnadel, einen Fischbein-Korsettstab, einen Giftpfeil. «Glück gehabt», sagt Dr. Meyer, den Blick noch immer auf die Gräte gerichtet, die er dir unter die Nase hält. «Das hätte ohne weiteres tödlich ausgehen
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