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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Autoren: Madeleine K. Albright
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verschwinden.

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GESCHICHTEN AUS BÖHMEN
    W ie alt ich war, als ich zum ersten Mal die Sage von Urvater Tschech und der weisen, unerschrockenen Libuše hörte, weiß ich nicht mehr, aber mit Sicherheit war ich sehr jung. Meine Mutter las sie mir immer wieder vor, sie liebte die alten böhmischen Sagen. Wie in vielen Kulturen mischten sich hier Legende und Realität zu einer Geschichte voller mitreißender Herausforderungen und Abenteuer, magischer Schwerter und fantasievoller Erklärungen zum Ursprung des Lebens. Im Lauf der Zeit traten echte Helden und Schurken auf den Plan, nahmen ihren Platz an der Seite von Fantasiehelden ein und schufen gemeinsam die Saga einer Nation. Die Aufgabe des Historikers ist es, solche Erzählungen sorgfältig zu prüfen und die Wahrheit von der Dichtung zu trennen. Häufig werden die Fakten jedoch so dargestellt, dass sie in ein Muster passen, das dem Empfinden des Autors zu jener Zeit, als er sie niederschrieb, entsprach. Aus diesem Grund scheint sich die Geschichte unablässig zu verändern. »Ein Gelehrter«, schrieb mein Vater einmal, »liest die historischen Quellen unweigerlich genauso, als würde er in einen Spiegel schauen – was ihm am meisten einleuchtet, ist das Abbild seiner eigenen Werte [und] … Identitätsgefühls.« 2
    Ich habe nie eine Vorlesung zur tschechischen Geschichte besucht, vielmehr sammelte ich meine Informationen Stück für Stück aus Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, aus Recherchen während meiner Zeit am College und den Büchern, die meine Mutter las und mein Vater schrieb. Mit der Zeit gelangte ich zu der Überzeugung, dass mein Vaterland etwas ganz Besonderes sei, ein Land voller humanistisch und demokratisch gesinnter Menschen, die einen unablässigen Überlebenskampf gegen feindliche Unterdrücker geführt haben. Die großartigsten Momente der Nation waren von der Bereitschaft geprägt, übermächtigen Widersachern
die Stirn zu bieten, die tragischsten von dem Versäumnis, sich zu wehren, als angebliche Verbündete und Freunde sie im Stich gelassen hatten. In seiner reinsten Form existierte dieser Staat in der Zwischenkriegszeit, als die Tschechoslowakische Republik als Musterbeispiel für die Demokratie des 20. Jahrhunderts in einem sonst düsteren Europa diente.
    Von dieser Geschichtsversion war ich so überzeugt, dass ich bei der Verteidigung meiner Dissertation aus allen Wolken fiel, als mich meine Professoren mit familiären Banden aus anderen Teilen Mitteleuropas scharf kritisierten. Ihnen wollte nicht in den Kopf, wieso ich die tschechoslowakische Erfahrung für so einzigartig hielt. In dieser Phase meines Lebens war ich nicht gewillt, die Geschichtsschreibung aufzugeben, die mir am besten gefiel, eine Version, die den Vorzug der Schlichtheit und klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse hatte. Die Professoren seien doch, so dachte ich damals, nur auf die demokratischen Institutionen und Wertvorstellungen meiner Heimat neidisch. Um das Land richtig wertzuschätzen, müssten sie mehr über seine Helden und Sagen, seinen Kampf um eine eigene Identität und die einzigartigen Eigenschaften seines Volkes wissen.
     
    D ie ersten Siedler in den Ländereien, die im Herzen Europas zwischen den Karpaten und der Donau liegen, waren die Boier, ein keltischer Stamm auf der Flucht vor Überflutungen im Norden. Diese Vorreiter wurden allmählich von germanischen Kriegern verdrängt, die anschließend von den Legionen des Römischen Reiches unterworfen wurden. Die Römer nannten das Land nach den Boiern »Bohemia«. Folglich wurde das Territorium von Italienern zu Ehren eines keltischen Volksstamms benannt, was zumindest beweist, dass Globalisierung keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist.
    Als das Römische Reich zusammenbrach, kehrten die Germanen zurück. Im sechsten Jahrhundert stießen slawische Völker zu ihnen, die aus den zentralasiatischen Steppen ausgewandert waren. Nach der Sage führte der Urvater Tschech (in deutschen Quellen Boemus) sein Volk auf einer mühsamen Reise nach Westen über drei große Ströme, bis sie zu einem ganz besonders geformten Hügel gelangten: oben
rund und flach, aber mit außerordentlich steilen Hängen. Von der Kuppe aus verkündete Tschech seinen müden Gefährten, dass sie endlich das »vom Schicksal vorausbestimmte Land« erreicht hätten, »eine Gegend, welche noch Niemand unterthan ist, reich an Wild und Geflügel, wo Milch und Honig fließt … Allenthalben finden sich zahlreiche und außerordentlich
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