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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Autoren: Madeleine K. Albright
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Lieblingsschlupfwinkel Havels aus den Tagen der Samtenen Revolution. Als ich ihm erklärte, was ich vorhatte, versprach er sofort, mir zu helfen. Ich fragte ihn nach seinen Kindheitserlebnissen und bat ihn, sich Gedanken über die Entscheidungen zu machen, welche Politiker im Krieg getroffen hatten. In jedem Gespräch mit Havel kommen politische Themen zur Sprache und damit unweigerlich auch moralische. Er hatte mir oft seine Idee
erklärt, dass man Gott mit der Sonne vergleichen könne: ein großes Auge am Himmel, das sieht, was wir tun, auch wenn kein Mensch in der Nähe ist. Mich hatte dieses Bild immer erschreckt, ich stimme aber zu, dass Gewissen die Eigenschaft ist, die bislang noch kein Wissenschaftler ganz erforscht hat. Walt Disney hat das Patentrezept »Lass dich von deinem Gewissen leiten« der Generation der amerikanischen »Baby Boomer« eingebläut. Das Leben ist komplizierter als dieser Wahlspruch, aber als ich mit Havel zusammensaß, fragte ich mich, ob wir nicht manchmal das Offensichtliche übersehen. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte ich mir seine Rede angehört, mit der er den US-Kongress völlig überrascht hatte. Die Tschechoslowakei hatte kurz zuvor ihre Unabhängigkeit wiedererlangt, und die Gesetzgeber erwarteten ein Loblied auf den Sieg im Kalten Krieg. Stattdessen bekamen sie einen Appell im Namen der ganzen Menschheit und eine Erklärung zu hören, dass der eigentliche Kampf – das Ringen um moralische Verantwortung für die Erde und unsere Nachbarn auf ihr – soeben erst begonnen habe.
    Warum treffen wir bestimmte Entscheidungen? Diese Frage hat mich immer schon fasziniert – und ist ein Leitmotiv dieses Buches. Was trennt die Welt in ihrer jetzigen Form von jener Vision eines ethischen Universums, die Menschen wie Havel vorschwebte? Was veranlasst einen Menschen, in einem kritischen Augenblick mutig zu handeln, und einen anderen, in der Menge unterzutauchen? Warum stellen manche Menschen in schweren Zeiten ihre Stärke unter Beweis, während andere schnell den Mut verlieren? Was unterscheidet den Schläger vom Beschützer? Ist es Erziehung, der Glaube, sind es unsere Eltern, Freunde, die Umstände der Geburt, traumatische Ereignisse oder höchstwahrscheinlich eine Kombination aus allem, die den Unterschied ausmachen? Kurzum: Hängen unsere Hoffnungen für die Zukunft von einer wünschenswerten Entwicklung äußerer Ereignisse oder von einem unergründlichen Prozess in unserem Inneren ab?
    Meine Suche nach einer Antwort auf diese Fragen beginnt mit einem Rückblick: in die Zeit und auf den Ort meiner frühesten Kindheit.

TEIL I
Vor dem 15. März 1939
    Nicht wahr, die Sibylla hat geweissagt, dass Böhmen von großer Not heimgesucht werden wird, von Kriegen, Hunger und Pest; … wenn weder Worte noch Versprechen gelten, dann wird es am schlimmsten sein, dann wird Böhmen an den Hufen der Pferde in alle Welt auseinander getragen werden.
    BOŽENA NĚMCOVÁ,
    Die Großmutter. Bilder aus dem ländlichen Leben , 1855

1
EIN UNWILLKOMMENER GAST
    A uf einem Hügel in Prag liegt eine Burg, die seit tausend Jahren dort steht. Von ihren Fenstern aus blickt man auf einen Wald aus goldenen Kuppeln und barocken Giebeln, Schieferdächern und Kirchtürmen. Auch die Steinbrücken sind zu sehen, die sich über die breite, mäandernde Moldau spannen, die gemächlich nach Norden fließt. Im Laufe der Jahrhunderte ist Prag durch die Kunstfertigkeit der Handwerker verschiedenster Nationalitäten und Konfessionen herrlich herausgeputzt worden; es ist eine tschechische Stadt mit unzähligen Akzenten. Am schönsten ist Prag im Frühling, wenn die duftenden Knospen der Linden aufplatzen, die Forsythien golden leuchten und der Himmel ein unwirkliches Blau annimmt. Die Menschen, die für ihre Sorgfalt, Widerstandsfähigkeit und ihren Pragmatismus bekannt sind, freuen sich in jedem Winter auf die Zeit, wenn die Tage länger werden, die kalten Winde nachlassen, die Bäume wieder Blätter bekommen und die Flussufer stumm zum Verweilen einladen.
    Am Morgen des 15. März 1939 hätte das Versprechen des kommenden Frühlings kaum ferner scheinen können. Der Schnee lag hoch auf dem Burggelände, der Wind blies eisig aus Nordost, der Himmel war bleigrau. Vor der amerikanischen Botschaft passten zwei ungepflegt aussehende Männer einen Diplomaten auf dem Weg in sein Büro ab und flehten ihn verzweifelt an, ihnen Asyl zu gewähren. Sie hatten für die tschechoslowakische Regierung in Deutschland spioniert und waren der
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