Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Autoren: Madeleine K. Albright
Vom Netzwerk:
sah, die immer noch in demselben hässlichen Grün gestrichen war, das ich in Erinnerung hatte. Während wir in dem engen Raum standen, erklärte ich ihr mein Anliegen. Isobel erbot sich spontan, die Kriegsgeschichte des Gebäudes zu recherchieren und mir zu schicken, was sie in Erfahrung brachte – ein Versprechen, das sie auch hielt.
    Vor der Abreise aus London nahm ich an einem Symposium mit dem Titel »Bande, die binden« teil, zur Erinnerung an den 70. Jahrestag der tschechoslowakischen Regierung im Exil. Die von Michael Žantovský, dem tschechischen Botschafter in Großbritannien, veranstaltete Konferenz diente als Forum zur Neubewertung vergangener Kontroversen im Lichte neu vorliegender Informationen. Einmal mehr war ich erstaunt darüber, wie zentral diese Geschichtsepoche gewesen war und wie weit die Meinungen der Gelehrten zum selben Ereignis auseinandergehen können. Am Ende des Tages waren einige von uns in Jubel ausgebrochen, andere in Tränen, und manche wurden fast schon handgreiflich.
    Ich reiste auch nach Prag, wo mir viele Freunde, alte und neue, bei meinen Nachforschungen halfen. Tomáš Kraus, der Vorsitzende der Föderation jüdischer Gemeinden in der Tschechischen Republik, beantwortete meine Fragen zur jüdischen Geschichte Prags, die bis ins siebte Jahrhundert zurückreichte. Daniel Herman vom Institut für die Erforschung totalitärer Regime übergab mir eine Akte, welche die kommunistische Nachkriegsregierung über meine Familie angelegt hatte. Nicht alle Dokumente waren lesbar, aber die Quellen besagten eindeutig, dass mein Vater in dem marxistischen Regime mächtige Feinde hatte. Im tschechischen Außenministerium erhielt ich Dokumente zur Karriere meines Vaters, darunter auch einen Polizeibericht über meinen Großvater väterlicherseits, der beim Autofahren offenbar nicht allzu viel Rücksicht genommen hatte. Im Jahr 1937 wurde er angewiesen, Schadenersatz für das Überfahren einer Henne zu zahlen. Ich stattete auch der Festung und dem Gefängnis Theresienstadt, dem heutigen Terezín, einen Besuch ab. Die letzte Station war der Friedhof, wo die Opfer einer langen Geschichte von Konflikten ihre letzte Ruhe fanden. Hier wird der Tschechen, Deutschen, Ungarn, Juden, Polen, Russen, Serben, Slowaken und anderen Nationalitäten gemeinsam gedacht, obwohl sie sich im Leben häufig gegenseitig an die Kehle gegangen waren.
    Bei meinen Reisen nach Prag verbrachte ich viel Zeit mit meiner Cousine Dáša, die mich stets mit einem Teller Zwetschgenknödel empfing. Mehr als zwei Jahre lang standen wir in ständigem Kontakt, tauschten Erinnerungen und Bilder aus und übersetzten
gemeinsam Briefe und andere Schriften. Zu der Zeit hat mich keine lebende Person früher als sie gekannt. Häufig hatte ich im Schutzbunker in ihren Armen Trost gefunden. Aber ihre Eltern konnten die Tschechoslowakei nicht verlassen, als meine nach England auswanderten, und später, als die Kommunisten die Macht übernahmen, beschloss Dáša zu bleiben und ihren Freund zu heiraten, statt in den Westen zu gehen. Wir hatten völlig unterschiedliche Leben geführt und schienen doch von derselben unerschöpflichen Tatkraft erfüllt. Sie leistete einen unschätzbaren Beitrag zu meinen Nachforschungen. Als ich sie im April 2011 zuletzt sah, hatte sie einen vollen Terminplan, mit Aktivitäten wie einem Programm für Kinder, das der Lehre und dem Gedenken des Holocaust gewidmet war. Anfang Juli klagte sie nach der Rückkehr von einer Reise nach England über Schmerzen im Nacken und Rücken. Kaum zwei Wochen später starb sie. Ich werde immer dankbar sein, dass dieses Projekt half, uns wieder zusammenzuführen.
    Der Tod nahm noch einen zweiten Menschen, der eng mit diesem Buch verbunden ist, von dieser Welt. Am 18. Dezember 2011 erlag Präsident Vacláv Havel einer chronischen Atemwegserkrankung. Ich hatte ihn zuletzt auf der Feier seines 75. Geburtstags zwei Monate zuvor getroffen. Ich schenkte ihm damals einen Kompass, den ein US-Soldat im Ersten Weltkrieg benutzt hatte – dem Konflikt, nach dem die Tschechoslowakei zum ersten Mal unabhängig geworden war. Auf meiner Karte wies ich auf die Ironie hin, die in der Tatsache lag, dass ich dem Mann, der einer ganzen Generation als moralischer Leitstern diente, einen Kompass schenkte. Das 20. Jahrhundert brachte nur eine Handvoll wahrhaft demokratischer Helden hervor. Havel war einer von ihnen.
    Im Oktober 2010 hatten wir uns zum Essen im Café Savoy getroffen, einem verrauchten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher