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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Autoren: Madeleine K. Albright
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Reisen zu unternehmen. Der emotionalste Moment war für mich der Besuch der Prager Pinkas-Synagoge, wo unter den 80 000 Namen, die man dort zur Erinnerung an die Opfer der Shoah auf die Wände geschrieben hatte, auch jene meiner Familienangehörigen stehen. Ich war zuvor bereits in der Synagoge gewesen, war aber (da ich keinen Anlass dazu gehabt hatte) nicht auf die Idee gekommen, hier nach Namen von Angehörigen zu suchen.
    Die Episode wird in meinen Memoiren Madam Secretary ausführlich beschrieben und soll hier nicht näher geschildert werden. Die Haupterkenntnis ist jedoch von zentraler Bedeutung, weil sie den Anstoß zu diesem Buch gab. Regelrecht schockiert und, ehrlich gesagt, peinlich berührt stellte ich fest, dass ich über meine Familiengeschichte nicht besser Bescheid wusste. Meiner Schwester und meinem Bruder ging es genauso. Und die vielen Menschen, die mir erzählten oder schrieben, dass sie mit den Geheimnissen, die ihre eigenen Eltern gehütet hatten, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, waren mir auch kein großer Trost. Ich konnte akzeptieren, ohne dass mich das wirklich zufrieden stellte, dass die bestehende Kluft zwischen meiner Erinnerung und der Realität weder unerklärlich noch einzigartig war, dennoch bedauerte ich es, nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben. Darüber hinaus spürte ich den Drang, mehr über die Großeltern zu erfahren, die ich nicht kennengelernt hatte, weil ich zu klein war – insbesondere, weil ich inzwischen selbst Großmutter geworden war.
    Nachdem ich beschlossen hatte, mich in meine Familiengeschichte zu vertiefen, erkannte ich schon bald, dass ich das nicht tun konnte, ohne meine Eltern in den Kontext zu stellen, in dem sie gelebt hatten, insbesondere in die Jahre 1937 bis 1948, die Ära um den Zweiten Weltkrieg – und zugleich die ersten zwölf Jahre meines Lebens.
     
    E nde der dreißiger Jahre rückte die Tschechoslowakei in den Mittelpunkt der Weltpolitik, ein abgelegenes Land, das die wenigsten Menschen in Hauptstädten wie London und Washington jemals besucht hatten. Sie wussten nicht einmal, wie man den Namen ausspricht. Wenn überhaupt, so kannten die meisten es als Böhmen, das Land der Magie, der Marionetten, Franz Kafkas und des tapferen Königs Wenzel. Aber wer etwas über Mitteleuropa wusste, hatte mit Blick auf die tausendjährige Geschichte Respekt vor dieser Nation und schätzte sie wegen ihrer Lage an einer Kreuzung zwischen West und Ost. Außerdem war das Land der Schauplatz einer langen und mitunter erbitterten Rivalität zwischen Tschechen und Deutschen. In dem dramatischen Höhepunkt dieses Konflikts verlangte Adolf Hitler, dass die tschechoslowakische Regierung ihre Souveränität aufgab, indem sie den deutschen Truppen die Grenze öffnete. Hitler beschwor damit für ganz Europa eine Krise herauf, in der die Politiker knallhart rechnen mussten. Da die Tschechoslowakei den Großmächten im Westen nicht wert schien, für sie zu kämpfen, wurde das Land dem Streben nach Frieden geopfert.
    Aber der Krieg kam dennoch – und mit ihm die fast völlige Vernichtung des europäischen Judentums sowie eine Neuordnung der internationalen Politik.
    Meine Familie verbrachte den Zweiten Weltkrieg in England. Sie kam genau in der Phase in das Land, als die Bevölkerung des Inselstaates aus zwei Jahrzehnten der Selbstgefälligkeit erwachte. Wir waren dort, als Winston Churchill an seine Landsleute appelierte, sich gegen die nationalsozialistische Finsternis zu vereinen, den »Blitz« durchzustehen, den Flüchtlingskindern vom Kontinent eine Zuflucht zu geben und die tschechoslowakische Exilregierung aufzunehmen, in deren Diensten mein Vater stand. Meine ersten Erinnerungen gelten London und der britischen Landschaft, Luftschutzbunkern und Verdunkelungsvorhängen. Ich erinnere mich auch an einen Ausflug mit meinen Eltern zum Meer, obwohl man dort massive Stahlbarrieren aufgestellt hatte, um feindliche Invasionsversuche zu vereiteln.
    Von dem Tag an, als die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, waren meine Eltern und ihre Freunde sicher, dass die Alliierten siegen würden. Als Demokraten aus Mitteleuropa beteten sie, dass die Vereinigten Staaten – nicht die Sowjetunion – in unserer Region die maßgebliche Einflusszone besetzen würden. Es sollte anders kommen. Nach dem Sieg über die Nationalsozialisten wurde die Tschechoslowakei einmal mehr zu einem zentralen Schlachtfeld, auf dem sich der Totalitarismus durchsetzte. Meine Familie
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