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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Autoren: Madeleine K. Albright
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Gestapo bekannt. Der Diplomat, ein junger Beamter des Foreign Service namens George Kennan, wies sie ab. Er konnte nichts für sie tun.
    Als die Tschechen an jenem Morgen erwacht waren, hatte sie folgende Ankündigung überrascht: »Um sechs Uhr haben heute Morgen deutsche Truppen unsere Grenzen überschritten und rücken
auf allen Straßen nach Prag vor. Bleiben Sie ruhig.« Das Tageslicht war noch nicht durch die Wolken gedrungen, da rollte schon der erste Konvoi aus Gelände- und Lastwagen vorbei, in Richtung Burg. Die eisbedeckten Fahrzeuge wurden von Soldaten mit geröteten Gesichtern gelenkt, die Stahlhelme und Wollmäntel trugen. Wenig später hatten die Prager ihren Frühstückskaffee getrunken, und es war Zeit, zur Arbeit zu gehen. Die Gehwege füllten sich mit Männern und Frauen. Sie blieben stehen und starrten die fremde Prozession an, hoben trotzig die Faust, riefen etwas oder glotzten wie versteinert.
    Auf dem Wenzelsplatz stimmten spontan einige Menschen patriotische Lieder an. Immer mehr motorisierte Bataillone rollten in die uralte Stadt und drangen in jedes Viertel vor. Am Bahnhof wurden Geschütze und Panzer abgeladen. Noch am Vormittag verschafften sich deutsche Soldaten in ihren Knobelbechern zielstrebig Zutritt zum Rathaus, zu den Ministerien, Gefängnissen, Polizeiwachen und Kasernen. Sie besetzten die Flugplätze, stellten Feldgeschütze auf den schneebedeckten Hängen des Petřín Hügels auf, hissten Flaggen und Banner an den Häuserfronten und befestigten Lautsprecher an Laternenpfählen und Bäumen. Das Kriegsrecht wurde ausgerufen und eine Ausgangssperre ab 21 Uhr verhängt.
    Nach Einbruch der Dunkelheit fuhr eine Wagenkolonne von Norden in die Stadt ein. Die Fahrgäste wurden eilends durch die verlassenen Straßen, über den Fluss und über kurvenreiche Seitenstraßen den Burghügel hochgebracht. Somit diente an jenem Abend der sagenumwobene Sitz der böhmischen Könige dem Herrscher des »Dritten Reichs« als Hauptquartier. Adolf Hitler und seine höchsten Berater Hermann Göring und Joachim von Ribbentrop waren bester Laune. »Es mag sein, dass die Tschechen entrüstet schreien werden«, hatte der »Führer« dem Vernehmen nach seinen Militärs gesagt, »wir werden ihre Alarmrufe ersticken, bevor sie ihnen aus der Kehle fahren. Und wer würde ihnen schon zu Hilfe kommen?« 1 Im Sinne der Äußerung, die Bismarck zugeschrieben wurde, dass jeder, »der Böhmen kontrolliert, ganz Europa kontrolliert«, hatte Hitler diesen Tag seit langem geplant. Er hielt die Tschechen wegen ihrer Raffinesse für das gefährlichste slawische Volk, er hatte ein Auge auf ihre Luftstützpunkte und Munitionsfabriken
geworfen, er wusste genau, dass er seine Ambitionen im übrigen Europa nur dann verwirklichen konnte, wenn das tschechische Vaterland zerschlagen wurde. Nunmehr hatte sein Triumphzug begonnen. Innerhalb der Mauern der Burg, über der die deutsche Fahne wehte, wurde Deutsch gesprochen. Der sonst vegetarische Abstinenzler Hitler gönnte sich ein Siegesmahl: eine Flasche Pilsener und eine Scheibe Prager Schinken.
    Bild 1
    Deutsche Soldaten besetzen Prag
    Bild 7
    Am nächsten Tag wies Ribbentrop die wichtigsten Rundfunkstationen an zu verkünden, dass die Tschechoslowakei aufgehört habe zu existieren. Böhmen und Mähren sollten in ein großdeutsches Reich eingegliedert werden, und ihre Regierung, inzwischen ein »Reichsprotektorat«, werde aus Berlin Befehle empfangen. Die Bürger sollten weitere Instruktionen abwarten. Unterdessen empfing Hitler Besucher. Als Erster sagte Emil Hácha, der tschechische Präsident, seine Kooperation zu, dann der Verteidigungsminister, der Bürgermeister. Niemand wollte ein Blutbad. Um die Mittagszeit versammelte sich eine Menge deutschsprachiger Zivilisten und Soldaten und jubelte dem »Führer« zu, als er sich an einem Fenster im zweiten Stock zeigte. Dieses Bild gefiel den Nazis so gut, dass sie es auf einer Briefmarke abdruckten.
    In den folgenden Tagen hörte es auf zu schneien, aber die Luft blieb bitterkalt. Deutsche Soldaten nahmen die Militärkasernen in
Beschlag. NS-Verwaltungsbeamte richteten sich in den nobelsten Villen und Hotels ein. Jeden Morgen vor Tagesanbruch huschten Männer in langen Mänteln durch die Stadt, sie hatten Schlagstöcke und schwarze Listen bei sich. Meine Eltern schickten mich zu meiner Großmutter und versuchten mit allen Mitteln das zu erreichen, was ihr geliebtes Land bereits getan hatte: von der Bildfläche zu
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