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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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Mann.
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    Die Schnepfe, englisch snipe, ist ein in Sumpf gebieten lebender Watvogel mit langem, schmalem Schnabel, mit dem er nach Insekten und Ähnlichem stochert. Wenn er jemanden sieht, kauert er sich bis zum letzten Moment ins Gras, steigt dann jäh im Zickzackflug auf und gleitet pfeilschnell durch die Luft. Vor langer Zeit gab es noch Männer, die mit dem Gewehr so schnell waren, dass sie auf Schnepfen anlegen und sie vom Himmel schießen konnten. Das waren Schnepfenjäger oder Sniper.
    Sniper. Das Wort wehte 1914 über die Schützengräben und wurde zu der Soldatenbezeichnung Scharfschütze: ein ver steckter Mann, der immer nur einen einzigen Feind erschoss, der sich zu tarnen wusste und mit der Landschaft verschmolz, egal, ob er irgendwo kauerte oder kroch, ob er sich einen Platz suchte oder beobachtete, wie sich in hundert Metern Entfernung eine Hand bewegte, und sie mit einer Kugel durchbohrte. Wurde er gefangen genommen, musste er damit rechnen, hingerichtet zu werden wie ein Spion, weil seine Uniform die Unsichtbarkeit war, weil sein Auge immer durchs Visier blickte und alle Soldaten vor ihm in Deckung gingen, weil er vielen Menschen die Freunde erschoss. Anscheinend mangelte es ihm an Mitleid, er hatte es verloren oder vielleicht gar keins besessen, darum wurde auch ihm keins gewährt.
    Inzwischen wird anscheinend jeder, der ein Gewehr an legt, als Sniper bezeichnet, obwohl es sich wahrscheinlich nur um einen wütenden Mann oder einen unbarmherzigen Jun gen mit einer leistungsfä higen Waffe handelt, der auf einem Uhrenturm oder in einem Gebüsch am Highway kauert und unschuldige Mensc hen erschießt, nur weil sie zufä llig vorbeikommen. Sniper: Das Wort ist schnell ausgesprochen, doch die Besten von ihnen sind sorgfä ltige, geduldige, besonnene Männer. Am Vortag hatte ich das Wort in der Stadt auf offener Straße gehört, hatte gehört, wie man von einem mutmaßlichen Scharfschützen sprach, der in letzter Zeit ein paar Jäger erschossen hatte, denn was sollte aus diesen Männern sonst wohl geworden sein? Die seien bestimmt nicht einfach abgehauen und hätten ihre Familien im Stich gelassen. Nichts dergleichen. Und als ich einkaufen ging, hieß es, die Männer würden tatsächlich vermisst, und mir wurde klar, dass für die Leute im Supermarkt die Gerüchte und die Gespräche darüber alles waren. Die Behörden suchten inzwischen, aber bei der Jagd liegt es in der Natur der Sache, dass in der Wildnis Schüsse abgegeben werden. Jedenfalls betrachtete ich mich nicht als Scharfschützen, da mir dazu die nötige Übung und die wahre Geduld fehlten. Anscheinend redeten sie über jemand anders, aber es stimmte, dass ich in den letzten Tagen in ein paar Vorfä lle verwickelt war.
    Angeblich muss man geistig verwirrt sein, um ein Gewehr völlig ruhig halten zu können. Aber mein Vater hatte gesagt, der englische Scharfschütze, der meinem Großvater die En field Modell 14 schenkte, sei ein glücklicher Mensch gewesen, er habe sich über das Ende der Kämpfe gefreut und wollte den Rest seines Lebens in einem Provinzstädtchen mit einem Kirchturm und abendlichem Glockengeläut verbringen, mit dem Blöken von Schafen und warmem Meeresgeruch im Sommer. Zur angeblichen geistigen Verwirrung bei Scharfschützen sagte mein Vater lediglich, ein perfekter Schütze sei leidenschaftlich und kaltblütig zugleich, bei geringer Entfer nung fühle er sich unwohl, bei großer Entfernung sei er am besten.
    Das klang nicht verwirrt. Hoffentlich war der dritte Mann kein solcher Schütze, denn sonst hatte mein letztes Stündchen geschlagen.
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    Ich glaubte, zweihundert Meter entfernt ein Gesicht zu sehen, rannte vom Pick-up zu meinem Gewehr und warf mich auf den Boden, ergriff im Rutschen mit der Linken die Enfield und hielt mit rechts die Decke über mich, um mein Haar zu verbergen.
    Zu meiner Rechten versuchte der Pick-up noch immer, den Baum zu erklimmen - dieser Lärm konnte mein Verderben sein, denn er machte es unmöglich, den Schützen zu entdecken, einzuschätzen, von wo er schoss. Dieser verdammte Wagen. Meine Hand war zehn Zentimeter vom Abzug entfernt. Nein, ich durfte mich nicht bewegen. Ich lag unter der Decke und atmete mit dem Gesicht nach unten ganz tief und langsam. Einen Meter links von mir schlug ein Schuss ein, dann folgte noch einer, der, nach dem aufspritzenden Schnee zu urteilen, zwei Meter zu weit rechts lag. Er schoss aufs Geratewohl. Gut, dann konnte er mich also nicht sehen. Das hieß, dass er kein
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