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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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Visier hatte oder seinen weiten, aber ziemlich schlechten Blick nicht für einen besseren opfern und dabei Gefahr laufen woll te, entdeckt zu werden. Das hätte er besser tun sollen. Noch ein Schuss, diesmal nur wenige Zentimeter neben meinem Kopf. Vielleicht sah er mich auch und zielte bloß schlecht.
    Ich ließ den Kopf unten. Die Kälte versteinerte meine Kno chen und meine Lippen. Es kostete mich große Beherrschung, das Gesicht nicht zu heben, denn ich stellte mir die ganze Zeit vor, dass sich der Mann anschlich und mein Leben davon ab hing, aufzublicken und ihn dabei zu ertappen. Plötzlich steht er direkt vor der Decke und legt auf mich an. Guck mich an, Julius. Guck hoch! Doch ich wusste, wenn ich aufblickte, wür de ich mich mit meinem rosigen Gesicht vom Schnee abheben und sterben. Ich spürte, wie mein Herz pochte, wie es flatterte.
    Ich musste die Zeit totschlagen, darum flüsterte ich die Shakespeare- Wörter in den Schnee, die ich vor meinem Auf bruch in den Wald gelesen hatte. Eins fiel mir nicht mehr ein, anscheinend war es nutzlos.
    Dann schob ich mich die ersten paar Zentimeter zurück und wartete.
    Kein Schuss ertönte.
    Ich bewegte mich wieder ein paar Zentimeter, diesmal nach rechts, auf den Pick-up zu. Kein Schuss. Auf zweihundert Me ter Entfernung kann das Auge nicht ausmachen, wenn sich etwas um wenige Zentimeter bewegt, bei einem halben Meter schon, aber nicht bei ein paar Zentimetern. Eine halbe Stunde lang schob ich mich auf diese Art weiter, immer mit zehn Se kunden Pause dazwischen, eine Ü berlebensstrategie aus dem Ersten Weltkrieg, wenn man von einem Scharfschützen bedroht war, das hatte mein Großvater meinem Vater und auf diesem Wege auch mir erzählt. Klappte immer noch. Jetzt dauerte es nicht mehr lange. Als ich die sich drehenden Reifen des Pick-ups an meinem Ohr spürte, wusste ich, dass ich in Sicherheit war. Ich hob einen Zipfel der Decke hoch und schaute zur Seite. Ja. Der Wagen befand sich jetzt zwischen mir und dem Schützen: Ich hatte fünf Meter zurückgelegt. Er war vorsichtig, zu vorsichtig für einen Jäger. Ich rollte mich auf die Seite, zog das Gewehr an die Brust und lud nach. Trotz des verdammten Motors hörte er das Geräusch, und an der Stelle, an der noch vor einer halben Stunde mein Kopf gelegen hatte, bohrte sich eine Kugel in den Schnee.
    Der Schuss war ein dummer Fehler gewesen, denn damit hatte er ohne jeglichen Grund verraten, wo er sich befand. Besser, er hätte sich still verhalten und wäre wachsam geblie ben. Früher oder später hätte ich aufstehen müssen, und dann hätte er mich gesehen, oder es wäre dunkel geworden, und wir hätten beide nach Hause gehen können.
    Ich rollte mich einen Meter nach rechts und hielt die Decke vor mich, wartete kurz, schob dann den Kopf drunter und zog sie zurecht, damit ich durch die Augenschlitze spähen konnte.
    Der Mann lag noch da, wo ich ihn zuerst gesehen hatte, das konnte ich deutlich erkennen. Er hatte einen entscheidenden Fehler begangen: Er hatte nicht an seine Stiefel gedacht. Er trug eine weiße Jacke und hatte einen weißen Schal um den Kopf geschlungen, eigentlich eine gute Tarnung, aber wenn man bäuchlings im Schnee liegt, ragen die Stiefel ungefähr fünf Zentimeter höher auf als der Kopf, und seine Stiefel waren schwarz. Man muss die Stiefelfersen an die Farbe der Land schaft anpassen, wenn man sich mit dem Gewehr flach hinlegen will. Doch da wehten sie wie zwei schwarze Fahnen. Wenn ich genau zwischen die Stiefel zielte und dann noch ein bisschen tiefer, würde ich ihn in den Kopf treffen.
    Drei Kugeln. Wie sicher war ich mir? Meine Hände und mein Gesicht waren vom Schnee ganz taub. Ich war nicht überzeugt, ihn zu treffen, also musste ich mich anschleichen. Ich weiß nicht, wie lange ich dafür brauchte, aber mit den Bäumen als Deckung war es leichter. Ungefähr eine Stunde nachdem er auf mich geschossen hatte, befand ich mich zehn Meter seitlich von ihm und legte das Gewehr an.
    Irgendwie spürte er es. Er blickte sich um und sah mich. Im Gesicht des vor mir liegenden Mannes lag keine Angst mehr, aber die Spuren, die sie darin hinterlassen hatte, sagten mir alles, was ich wissen musste.
    45
    Ich erkannte ihn, und das heißt, dass ich diesen Mann, der drei oder vier Patronen auf mich abgefeuert hatte, von denen jede meinen unter einer Decke und einem Mantel verborge nen Körper wie ein weiches Ei durchbohrt hätte, nicht auf der Stelle erschoss. Er drehte sich auf die Seite und schwang sein
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