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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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Völkern entschieden. Ich schlug die Zeitschrift zu und zwängte sie zwischen Victor Hugos Die Züchtigungen und den Roman Die Elenden, denn mein Vater hatte mir auch gesagt, ich solle das geschriebene Wort niemals wegwerfen.
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    Nachmittags um halb drei war ich es leid, in der Hütte zu sitzen, weil wieder dieselbe Rastlosigkeit mein Blut, meine Augen, meine Hände quälte, so sehr, dass ich die Rastlosig keit überall zu sehen glaubte. Und außerdem erschien es mir ungerecht, dass ich noch auf der Erde weilte, während mein Gefährte der letzten Zeit unter derselben Erde lag, so dass mir der Verlust wieder vor Augen stand, und ich musste mir einen anderen Ort suchen, wo ich die Zeit verbrachte. Also ging ich in die Scheune, streute eine Handvoll Samenkörner für die Vögel aus, denen es bei Einbruch der Nacht an Wärme und Nahrung mangeln würde, und sie kamen von allen Seiten angeflogen, da sie wussten, dass ich sie jeden Tag fütterte, und dann ging ich mit der Enfield in den Wald, denselben Pfad entlang, der mich zu derselben Stelle führte, und sang ein Lied aus dem Ersten Weltkrieg, das ich als Kind gelernt hatte: »It's a long way to Tipperary, it 's a long way from horne, it 's a long way to Tipperary, to the sweetest girl I know.« Ich setzte mich an dieselbe Stelle und sah zwischen den Bäumen hindurch einen Hirsch auf dem Feld.
    14
    Mein Großvater wurde erst Soldat, als der Krieg längst im Gan ge war, das heißt, als das amerikanische Heer 1917 in den Krieg eintrat, ging er an Bord eines Transportschiffs und überquerte darauf den Atlantik. Und man gab ihm ein gutes Gewehr, ein Springfield Kaliber 30. Bei Kriegsende tauschte er die Waffe mit einem britischen Soldaten, der ein Jahr lang mit einer Lee Enfield im Schützengraben gelegen und mit der Scharfschützenversion Modell 14, ausgelegt für 303er Patronen, mit einem Fernrohraufsatz, deutsche Soldaten abgeknallt hatte.
    Das letzte Mal, dass mein Großvater einen Menschen er schoss, war bei der zweiten Marneschlacht, wo er auf die deutschen Truppen feuerte, die den Fluss überquerten. Sie erlitten schwere Verluste, und danach war mein Großvater anscheinend nicht mehr imstande, sein Ziel zu treffen, und schoss bis zum Kriegsende jedes Mal daneben oder zu hoch. Am letzten Kriegstag, dem 11. November 1918, saß er mit seinen Freunden da und zählte die Minuten bis zum Beginn des Waffenstillstands um elf Uhr. Währenddessen verließ ein britischer Soldat seinen Posten und näherte sich bei einem Aufklärungseinsatz den deutschen Linien. Seine Freunde riefen ihn zurück. Die Deutschen bedeuteten ihm, umzukehren und zu warten, doch er hörte nicht auf sie. Also erschossen sie ihn. Sechzig Sekunden später war der Krieg vorbei. Alle kletterten aus den Schützengräben und schüttelten sich die Hände. Mein Großvater tauschte das Gewehr, das in letzter Zeit so oft daneben geschossen hatte, gegen die Enfield des britischen Scharfschützen ein und nannte das Blutaustausch, weil der Scharfschütze gesagt hatte, er habe mit der Enfield in knapp zwei Jahren achtundzwanzig Männer getötet.
    Und so begab es sich, dass mein Großvater Anfang 1919 mit einem Gewehr nach Maine zurückkam, das er nie benutzt hatte und mit dem achtundzwanzig Männer erschossen wor den waren, und obwohl er es in gutem Zustand hielt, schoss er auch nach dem Krieg kein einziges Mal damit, denn er sagte, er habe genug Tote gesehen und genug Kordit gerochen, und der Krieg habe ihm das Schießen ausgetrieben. Nach dem Tod meines Großvaters gehörte das Gewehr meinem Vater, aber auch er schoss nicht damit, sondern nahm es nur alle paar Monate aus dem Holzkasten, um es zu reinigen.
    Mit zwölf Jahren nahm er mich einmal mit in die Scheune, holte das Gewehr aus dem Kasten und wickelte es aus der Le derhülle, ging mit mir in den Wald und zeigte mir, wie man es benutzt. Ich war der Erste seit 1918, der mit diesem Gewehr schoss, und ich hatte Mühe, es auch nur gerade zu halten, denn es wog über vier Kilo. Mein Vater erzählte mir, das Gewehr, das ich in Händen hielte, habe bestimmt etliche deutsche Soldaten in den Schützengräben das Leben gekostet, wahrscheinlich vor allem Offiziere, deren in deutschen Kleinstädten oder Dörfern lebende Frauen und Kinder in den folgenden Wochen Briefe mit offiziellen Beileidsbekundungen erhielten. Als er mir das erzählte, schien das Gewehr noch schwerer zu werden. Er sagte, ich sei befähigt, das Gewehr zu benutzen, sobald ich ein angenehmes, leicht mit
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