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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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sagte ich zum Fahrer.
    »Nichts zu danken«, sagte er. »Übrigens, haben Sie den lieben Gott mal angerufen?«
    »Nein, hatte keine Zeit.«
    »Seit der Chef tot ist, krieg ich keine Verbindung mehr. Was da bloß los ist?«
    »Er wird zu tun haben«, sagte ich.
    »Könnte sein«, sagte der Fahrer. »Also, leben Sie wohl!«
    »Auf Wiedersehen!«, sagte ich.
    Mein Zug fuhr Punkt zwölf Uhr. Auf dem Bahnsteig war keine Seele, und im ganzen Zug saßen nur vier Personen – mich eingerechnet. Dennoch erleichterte es mich, diese Menschen zu sehen. Ich hatte es geschafft, ich war wieder unter den Lebenden, in meiner Welt. Sie mochte langweilig sein und mittelmäßig, aber es war meine.
    Ich kaute an meiner Schokolade, als das Signal zur Abfahrt ertönte. Als es verklang und der Zug in Position ruckte, hörte ich eine ferne Explosion. Ich zog wuchtig das Fenster herunter und beugte mich hinaus. Zehn Sekunden später folgte ein zweiter Knall. Der Zug fuhr an. Drei Minuten später sah ich in der Gegend des Kegelbergs eine schwarze Rauchsäule gen Himmel steigen.
    Volle dreißig Minuten starrte ich wie gebannt auf den Rauch. Dann schwenkte der Zug in eine Rechtskurve ab.

EPILOG
    »Es ist vorbei, nicht wahr?«, sagte der Schafprofessor. »Es ist alles vorbei.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Ich glaube, ich bin dir zu Dank verpflichtet.«
    »Ich habe viel verloren.«
    »Nein.« Der Schafprofessor schüttelte den Kopf. »Dein Leben fängt doch erst an.«
    »Sie haben Recht«, sagte ich.
    Als ich das Zimmer verließ, sank der Schafprofessor am Schreibtisch in sich zusammen und schluchzte lautlos. Ich hatte ihn seiner verlorenen Zeit beraubt. Ob das recht war, wusste ich bis zuletzt nicht zu beantworten.
    * * *
    »Sie ist weg«, sagte der Inhaber des Hotel Delfin mit trauriger Stimme. »Wohin, hat sie nicht gesagt. Es schien ihr ziemlich schlecht zu gehen.«
    »Schon gut«, sagte ich.
    Ich nahm das Gepäck entgegen und schrieb mich im selben Zimmer ein wie vorher. Das Fenster bot immer noch denselben Blick auf jenes seltsame Firmenbüro. Die Sekretärin mit dem großen Busen war nirgends zu sehen. Zwei junge Männer saßen an ihren Schreibtischen und arbeiteten; sie rauchten dabei. Einer las laut Zahlen vor, der andere übertrug sie mit Hilfe eines Lineals auf ein großformatiges Blockdiagramm. Ohne die Sekretärin mit dem großen Busen machte die Firma einen völlig anderen Eindruck. Nur dass ich nach wie vor nicht die geringste Ahnung hatte, was man dort eigentlich machte. Um sechs Uhr gingen die Angestellten alle, die Lichter im Gebäude erloschen.
    Ich sah mir die Fernsehnachrichten an. Über die Explosion auf dem Berg kein Wort. Richtig, die Explosion war ja gestern. Wo war ich denn den ganzen Tag gewesen, was hatte ich gemacht? Ich versuchte mich zu erinnern, bekam aber nur Kopfschmerzen.
    Jedenfalls war ein Tag vergangen.
    Tag für Tag wird meine Erinnerung nun blasser werden – bis sich irgendwann wieder eine schwache Stimme aus dem Dunkel meldet.
    Ich stellte den Fernseher ab, legte mich mit den Schuhen aufs Bett und starrte einsam auf die vielen Flecken an der Decke. Sie erinnerten mich an vor langer, langer Zeit gestorbene, von aller Welt vergessene Menschen.
    Neonreklame tauchte das Zimmer in buntes Licht. An meinem Ohr das Ticken der Armbanduhr. Ich löste das Band und warf die Uhr auf den Boden. Fernes Autogehupe. Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Wer kann schon schlafen, wenn Empfindungen auf der Seele lasten, die sich nicht in Worte fassen lassen.
    Ich zog einen Pullover über, verließ das Hotel, ging in die erstbeste Diskothek, die ich sah, und trank zu Nonstop Soul Music drei doppelte Whiskey on the Rocks. Danach ging es mir ein bisschen besser, fast normal. Ich musste normal werden. Alle Welt verlangte das von mir.
    Als ich ins Hotel Delfin zurückkam, saß der Besitzer im Sessel und sah sich die Spätnachrichten an.
    »Morgen früh um neun reise ich ab«, sagte ich.
    »Fahren Sie nach Tokyo zurück?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich muss vorher noch woanders hin. Wecken Sie mich bitte um acht.«
    »Geht in Ordnung«, sagte er.
    »Vielen Dank für alles.«
    »Keine Ursache.« Der Hotelbesitzer seufzte. »Mein Vater isst nichts mehr. Wenn er so weitermacht, stirbt er.«
    »Es war nicht leicht für ihn.«
    »Ich weiß«, sagte der Besitzer traurig. »Aber er hat mir noch kein Wort erzählt.«
    »Es wird schon werden, bestimmt«, sagte ich. »Geben Sie ihm etwas Zeit.«
    * * *
    Das Mittagessen des nächsten
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