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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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Leben hatte keinen Sinn. Andererseits hat natürlich, wenn ich einen deiner geliebten Gemeinplätze benutzen darf, niemandes Leben einen Sinn. Stimmt’s?«
    »Stimmt«, sagte ich. »Zwei Fragen noch zum Schluss.«
    »Bitte.«
    »Die erste betrifft den Schafsmann.«
    »Der Schafsmann ist in Ordnung.«
    »Aber der Schafsmann, der mich hier besucht hat, warst du, richtig?«
    Ratte rollte seinen Kopf, dass es knackte. »Richtig. Ich hab seine Gestalt angenommen. Du hast es also gemerkt?«
    »Anfangs nicht«, sagte ich. »Erst mittendrin.«
    »Als du die Gitarre zertrümmert hast, hab ich mich, um ehrlich zu sein, furchtbar erschrocken. So wütend hatte ich dich noch nie gesehen, und die Gitarre war meine allererste. Ein billiges Stück, aber ich hab sie mir selbst gekauft.«
    »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Ich dachte, wenn ich dich erschrecke, könnte ich dich aus der Reserve locken.«
    »Macht nichts. Alles vergeht mit der Zeit«, sagte Ratte schlicht. »Zu deiner zweiten Frage. Sie betrifft deine Freundin, nicht wahr?«
    »Ganz recht.«
    Ratte war lange still. Ich hörte, wie er die Hände gegeneinander rieb und dann seufzte. »Mir wäre lieber, wenn wir nicht über sie reden müssten. Sie war nicht eingeplant.«
    »Nicht eingeplant?«
    »Ich wollte eine Party im kleinen Kreis. Dann war auf einmal sie da. Wir hätten sie nicht mit hineinziehen dürfen. Das Mädchen verfügt, wie du weißt, über ganz erstaunliche Fähigkeiten, kann alles Mögliche an sich ziehen. Aber hierher hätte sie nicht kommen dürfen. Was hier abläuft, übersteigt auch ihre Fähigkeiten bei weitem.«
    »Was ist mit ihr passiert?«
    »Sie ist okay, keine Angst. Es geht ihr gut«, sagte Ratte. »Nur – sie hat nichts mehr, was dich anziehen könnte. So leid mir das tut.«
    »Weshalb?«
    »Es ist weg. Es war in ihr, und jetzt ist es weg.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Ich weiß, wie du dich fühlst«, fuhr Ratte fort. »Aber es wäre sowieso passiert, irgendwann, früher oder später. Immer zerbricht etwas, immer geht etwas weg, in dir, in mir, in den Frauen, die wir mögen.«
    Ich nickte.
    »Ich muss gehen«, sagte Ratte. »Zu lange darf ich nicht bleiben. Irgendwann sehen wir uns wieder, bestimmt.«
    »Bestimmt«, sagte ich.
    »Am besten, wenn es heller ist. Sommer wäre nicht schlecht«, sagte Ratte. »Zum Schluss noch eins: Ich möchte, dass du morgen früh um neun die Standuhr stellst und dann die Drähte, die auf der Rückseite herausschauen, miteinander verbindest. Den grünen mit dem grünen, den roten mit dem roten. Und dann mach dich um halb zehn auf den Weg ins Tal. Punkt zwölf Uhr gebe ich hier für jemanden eine kleine Teeparty. Alles klar?«
    »Wird gemacht.«
    »Es war schön, dich zu sehen.«
    Einen Augenblick hüllte uns Schweigen ein.
    »Leb wohl«, sagte Ratte.
    »Bis bald«, sagte ich.
    Fest in die Decke gewickelt, schloss ich die Augen und spitzte die Ohren. Gedämpfte Schritte. Ratte durchquerte langsam das Zimmer und öffnete die Tür. Ein Hauch wie Eis wehte herein. Kein Wind; ein schwerer, kalter Hauch, der alles durchdrang.
    Ratte blieb eine Zeit lang auf der Schwelle stehen, die Tür offen. Er schien etwas anzustarren, nicht die Landschaft draußen, nicht das Zimmer, nicht mich. Irgendetwas völlig anderes.
    Es hätte der Türgriff, es hätten auch seine eigenen Schuhspitzen sein können. Dann, als schlösse er die Pforten der Zeit, ließ er leise die Tür ins Schloss fallen.
    Danach war Stille, und außer der Stille war nichts.

13. DER GRÜNE UND DER ROTE DRAHT – FROSTSTARRE MÖWEN
    Als Ratte weg war, packte mich unerträglicher Schüttelfrost. Ich versuchte, mich über dem Waschbecken zu erbrechen, aber alles, was kam, war heiseres Geröchel.
    Ich ging nach oben, zog meinen Pullover aus und legte mich ins Bett. Abwechselnd überfielen mich Frösteln und Fieber, und im gleichen Rhythmus weitete sich das Zimmer und schrumpfte dann wieder zusammen. Meine Unterwäsche und die Decke waren schweißnass und machten mich vor Kälte zittern.
    »Um neun Uhr die Uhr aufziehen«, flüsterte es nahe an meinem Ohr. »Der grüne Draht auf den grünen Draht … der rote Draht auf den roten Draht … um halb zehn hier weg …«
    »Keine Bange«, sagte der Schafsmann. »Das geht schon gut.«
    »Die Zellen erneuern sich«, sagte meine Frau. In der rechten Hand hielt sie einen weißen Spitzenslip.
    Unbewusst warf ich den Kopf hin und her.
    Den roten Draht auf den roten … den grünen auf den
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