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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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schlug es halb neun. Es hatte aufgehört zu schneien, aber am Himmel hingen noch die gleichen dicken Wolken. Die Dunkelheit war perfekt. Ich saß lange einfach nur da und kaute am Daumennagel. Ich konnte nicht einmal die Hand vor den Augen richtig erkennen. Der Ofen war aus, das Zimmer eiskalt. Ich wickelte mich fester in die Decke und starrte einfach nur ins Dunkel. Mir war, als hockte ich auf dem Grunde eines tiefen Brunnens.
    Die Zeit verging. Die Partikel der Dunkelheit malten mir wundersame Bilder auf die Netzhaut. Nach einer Weile fielen sie lautlos in sich zusammen und neue entstanden. Der Raum ruhte wie Quecksilber; nur die Dunkelheit bewegte sich.
    Ich stellte alles Denken ein und überließ mich dem Strom der Zeit. Die Zeit trug mich mit sich fort. Eine neue Dunkelheit malte neue Bilder.
    Die Uhr schlug neun. Als der neunte Schlag in der Dunkelheit verhallte, rückte Stille nach.
    »Können wir reden?«, fragte Ratte.
    »Sicher«, sagte ich.

II. DIE IM DUNKELN LEBEN
    »Sicher«, sagte ich.
    »Ich bin eine Stunde zu früh«, sagte Ratte entschuldigend.
    »Macht nichts. Du weißt ja, ich habe sowieso nichts zu tun.«
    Ratte lachte leise. Er befand sich hinter mir. Mir war, als säßen wir Rücken an Rücken.
    »Fast wie früher«, sagte Ratte.
    »Wir können anscheinend nur offen miteinander reden, wenn wir beide nichts zu tun haben«, sagte ich.
    »Sieht ganz so aus.« Ratte lächelte. Es war stockdunkel, und wir saßen Rücken an Rücken; aber ich wusste, dass er lächelte. Eine winzige Bewegung der Luft, allein die Atmosphäre sagten mir genug. Wir waren einmal Freunde gewesen. Irgendwann, vor langer Zeit.
    »Der Weise sagt: Ein Freund, mit dem man Zeit totschlägt, ist ein wahrer Freund«, sagte Ratte.
    »Das stammt von dir, stimmt’s?«
    »Du und deine Intuition! Stimmt.«
    Ich seufzte. »Aber in dieser verworrenen Sache hier hat sie mich völlig im Stich gelassen. Mein Gott, was war ich blöd! Am liebsten würde ich mich begraben lassen. Dabei habt ihr so viele Hinweise gegeben.«
    »Mach dir nichts draus. Du hast dich noch gut geschlagen.«
    Wir schwiegen. Ratte betrachtete anscheinend wieder seine Hand.
    »Ich hab dir ganz schönen Ärger gemacht. Das tut mir wirklich leid. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Außer dir hätte ich niemanden bitten können. Ich hab’s dir ja geschrieben.«
    »Genau darüber möchte ich was hören. Da musst du schon genauer werden.«
    »Werd ich«, sagte Ratte, »ich erzähl dir alles. Aber lass uns vorher ein Bier trinken.«
    Ich wollte aufstehen, aber Ratte hielt mich zurück.
    » Ich hol es«, sagte er. »Schließlich bin ich der Hausherr.«
    Ich hörte, wie Ratte sicheren Schrittes in der Dunkelheit zur Küche ging und einen ganzen Arm voll Dosenbier aus dem Kühlschrank nahm. Ich öffnete und schloss dabei abwechselnd die Augen. Die Dunkelheit bei offenen Augen unterschied sich farblich kaum von der bei geschlossenen.
    Ratte kam mit den Dosen zurück und stellte sie auf den Tisch. Ich tastete nach einer, riss sie auf und trank sie zur Hälfte aus.
    »Schmeckt gar nicht nach Bier, wenn man nichts sieht«, sagte ich.
    »Tut mir leid, aber dunkel muss es sein.«
    Eine Weile tranken wir nur unser Bier.
    »Gut«, sagte Ratte schließlich und hüstelte. Ich stellte meine leere Dose auf den Tisch zurück und wartete, in die Decke gewickelt, dass er begann. Aber es folgte nichts. Ich hörte nur, wie Ratte sein Bier in der Hand kreisen ließ, um festzustellen, wieviel noch in der Dose war. Eine alte Gewohnheit von ihm.
    »Gut«, sagte er noch einmal. Dann trank er in einem Zug aus und stellte die Dose geräuschvoll auf dem Tisch ab. »Beginnen wir damit, warum ich überhaupt hierher kam. Einverstanden?«
    Ich sagte nichts. Ratte wartete, bis er sicher war, dass ich nicht antworten wollte, und fuhr dann fort: »Mein Vater kaufte das Stück Land hier 1953. Ich war damals fünf. Warum er ausgerechnet hier Land kaufte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er es billig von der US -Army übernommen. Die Verbindung zum Tal ist, wie du gesehen hast, katastrophal, schon im Sommer, und im Winter, wenn Schnee liegt, absolut blockiert. Die Amerikaner wollten anscheinend die Straße ausbauen und hier eine Radarstation errichten, ließen den Plan aber schließlich aus Zeit- und Kostengründen fallen. Die Stadt war natürlich zu arm, die Straße auszubauen. Wozu auch eine Straße, die niemandem nützt? Man ließ also alles einfach so, wie es war.«
    »Wollte der Schafprofessor denn
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