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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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nicht hierher zurück?«
    »Der Schafprofessor lebt in seinen Erinnerungen. Der will nirgendwo mehr hin.«
    »Das kann sein«, sagte ich.
    »Trink noch ein Bier«, sagte Ratte.
    »Nein danke«, sagte ich. Da der Ofen aus war, fror ich bis ins Mark. Ratte riss sich eine neue Dose auf und trank alleine.
    »Meinem Vater gefiel es hier. Er besserte die Straße ein bisschen aus und renovierte das Haus. Das hat ziemlich viel gekostet, glaub ich. Danach ließ sich hier, wenn man motorisiert war, im Sommer wenigstens gut leben. Heizung, Waschgelegenheit, Klo, Dusche, Notstromaggregat, alles da. Wie der Schafprofessor hier früher leben konnte, ist mir ein Rätsel.«
    Ratte machte ein seltsames Geräusch; es war weder Rülpsen noch Seufzen.
    »Von 1955 bis 1963 kamen wir jeden Sommer hierher. Mein Vater, meine Schwester, ich und ein Mädchen, das im Haushalt half. Das war, wenn ich’s recht bedenke, die schönste Zeit meines Lebens. Die Weide hatten wir – wie auch jetzt noch – der Stadt verpachtet, und im Sommer wimmelte es nur so von Schafen. Schafe, überall Schafe. Sommer, das hieß für mich immer Schafe.«
    Ein Landhaus haben – was das bedeutete, konnte ich nicht ermessen. Und würde es wohl mein Lebtag nicht können.
    »Ab Mitte der Sechziger allerdings kamen wir fast gar nicht mehr her. Wir hatten noch ein anderes Landhaus, näher an zu Hause, meine Schwester heiratete, ich kam nicht mehr so gut mit der Familie klar, mein Vater hatte eine Zeit lang Probleme mit der Firma, all so was eben. Jedenfalls, das Land wurde wieder sich selbst überlassen. Das letzte Mal war ich, glaub ich, 1967 hier. Allein. Ich verbrachte hier alleine einen Monat.«
    Ratte verstummte, als ob er sich an etwas erinnere.
    »Warst du einsam?«, fragte ich.
    »Einsam? Nein. Am liebsten wäre ich für immer geblieben. Aber das ging nicht. Das Haus gehört meinem Vater. Und von meinem Vater wollte ich nichts nehmen.«
    »Wie heute noch, nicht?«
    »Ja«, sagte Ratte. »Deshalb wollte ich auch überall hin, bloß nicht hierher. Aber dann, als ich in Sapporo, in der Lobby des Delfin , zufällig das Foto sah, zog es mich wieder her; einmal noch wollte ich einen Blick auf die Landschaft werfen – aus reiner Sentimentalität. Du weißt, was ich meine.«
    »Ja«, sagte ich. Ich dachte an mein Stück Meer, das man aufgeschüttet und zugebaut hatte.
    »Und dann kam der Schafprofessor, die ganze Geschichte. Die Geschichte von dem Traumschaf mit dem Stern auf dem Rücken. Du kennst sie, ja?«
    »Zur Genüge.«
    »Den Rest kann ich kurz machen«, sagte Ratte. »Nachdem ich das alles gehört hatte, wollte ich plötzlich den Winter hier verbringen. Der Gedanke ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Vater hin, Vater her, das war mir mit einem Mal scheißegal. Ich packte zusammen, was ich brauchte, und kam her – wie von irgendetwas magisch angezogen.«
    »Und trafst das Schaf, richtig?«
    »Richtig«, sagte Ratte.
    * * *
    »Der Rest ist bitter und schwer zu erzählen«, sagte Ratte. »Wie immer ich mich ausdrücke, du wirst diese Bitterkeit doch nicht verstehen.«
    Ratte drückte mit den Fingern seine zweite leere Dose ein. »Könntest du mir nicht Fragen stellen? Du weißt doch ungefähr Bescheid.«
    Ich nickte stumm. »Aber ich kann nicht der Reihe nach fragen. Macht dir das was?«
    »Das ist in Ordnung.«
    »Du bist schon tot, nicht wahr?«
    Es dauerte entsetzlich lange, bis Ratte antwortete. Vielleicht schwieg er nur ein paar Sekunden, aber für mich war es eine Ewigkeit. Mein Mund war trocken wie Stroh.
    »Ja«, sagte Ratte ruhig. »Ich bin tot.«

12. RATTE UND DIE UHR
    »Ich hab mich an dem Balken in der Küche erhängt«, sagte Ratte. »Der Schafsmann hat mich neben der Garage begraben. Das Sterben war gar nicht so schlimm – falls du dir darum Gedanken machen solltest. Aber das spielt wirklich keine Rolle.«
    »Wann?«
    »Eine Woche, bevor du kamst.«
    »Und vorher hast du die Uhr aufgezogen?«
    Ratte lachte. »Kaum zu glauben, was? Du lebst dreißig Jahre, und deine letzte, deine allerletzte Handlung besteht darin, die Uhr aufzuziehen. Warum sollte einer mit dem Tod vor Augen noch die Uhr aufziehen? Wirklich sonderbar.«
    Als Ratte schwieg, herrschte Stille ringsum; nur das Ticken der Uhr war zu hören. Alle anderen Geräusche schluckte der Schnee. Mir war, als wären wir die beiden letzten Überlebenden im All.
    »Wenn …«
    »Spar dir die Mühe«, unterbrach Ratte mich. »Es gibt keine Wenns mehr. Und du weißt es, oder?«
    Ich schüttelte
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