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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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den Kopf. Ich wusste nichts.
    »Wenn du eine Woche früher gekommen wärst, wäre ich auch schon tot gewesen. Wir hätten uns dann vielleicht früher getroffen, und es wäre vielleicht heller und wärmer gewesen. Aber das bleibt sich gleich. Ich hätte auf jeden Fall sterben müssen. Es wär nur bitterer gewesen. So bitter, dass ich es gewiss nicht ertragen hätte.«
    »Warum musstest du denn unbedingt sterben?«
    Ich hörte, wie Ratte im Dunkeln die Hände aneinander rieb.
    »Davon möchte ich nicht reden. Es würde auf eine Rechtfertigung meiner selbst hinauslaufen. Kannst du dir etwas Schäbigeres vorstellen als einen Toten, der sich selbst rechtfertigt?«
    »Wenn du es mir nicht sagst, werde ich es nie erfahren.«
    »Trink noch ein Bier.«
    »Mir ist kalt.«
    »So schlimm ist es nicht mehr.«
    Mit zitternden Fingern zog ich den Verschluss einer Dose auf und nahm einen Schluck. Danach war mir tatsächlich nicht mehr so kalt.
    »Gut, ich mach’s kurz. Aber nur, wenn du versprichst, es niemandem zu erzählen.«
    »Wem sollte ich das schon erzählen? Denkst du, mir würde einer glauben?«
    »Wohl kaum«, sagte Ratte lachend.
    »Solchen Unsinn glaubt keiner, sag ich dir!«
    Die Uhr schlug halb zehn.
    »Macht’s dir was aus, wenn ich die Uhr anhalte?«, fragte Ratte. »Sie stört mich.«
    »Nur zu. Ist schließlich deine Uhr.«
    Ratte stand auf, klappte die Tür der Standuhr auf und hielt das Pendel an. Alles Geräusch und alle Zeit verschwanden vom Antlitz der Erde. 
    »Einfach ausgedrückt, bin ich mit dem Schaf in mir gestorben. Ich hab gewartet, bis das Schaf fest eingeschlafen war, hab dann ein Seil um den Balken in der Küche gebunden und mich daran erhängt. Zur Flucht hat es für den Bastard nicht mehr gereicht.«
    »Gab es wirklich keinen anderen Weg?«
    »Nein, einen anderen Weg gab es nicht. Ein bisschen später, und das Schaf hätte mich völlig in seiner Gewalt gehabt. Es war meine letzte Chance.«
    Ratte rieb noch einmal die Handflächen gegeneinander. »Ich wollte dir als ich selbst entgegentreten. Mit meinen Erinnerungen und mit meinen Schwächen. Ich als ich selbst. Deshalb hab ich dir auch dieses kryptische Foto geschickt. Wenn der Zufall dich herführen sollte, dachte ich, würde ich am Ende gerettet.«
    »Und, bist du gerettet worden?«
    »Ja«, sagte Ratte ruhig. »Ich bin gerettet.«
    * * *
    »Die Schwäche, das ist der Schlüsselpunkt«, sagte Ratte. »Damit fängt alles an. Ich glaube nicht, dass du das verstehst.«
    »Alle Menschen sind schwach.«
    »Keine Gemeinplätze«, sagte Ratte und schnippte ein paar Mal mit den Fingern. »Mit Gemeinplätzen allein kommt der Mensch nicht weiter. Ich rede von mir, ganz konkret von mir.«
    Ich schwieg.
    »Die Schwäche sitzt mitten im Körper und fault und breitet sich aus. Wie ein Geschwür. Ich hab sie gespürt, seit ich fünfzehn war. Deshalb war ich auch immer so gereizt. Weißt du, was es heißt, etwas in sich zu haben, das mit tödlicher Sicherheit vor sich hin fault, mehr noch, was es heißt, sich dessen ständig bewusst zu sein?«
    Ich saß in meine Decke gewickelt und schwieg.
    »Wahrscheinlich nicht«, fuhr Ratte fort. »Diese Seite ist dir nicht eigen. Wie auch immer, das jedenfalls ist Schwäche. Mit der Schwäche verhält es sich wie mit einer Erbkrankheit. Du weißt, dass du sie hast, aber du kannst dich selbst nicht davon heilen. Sie vergeht auch nicht einfach irgendwie. Sie wird nur immer schlimmer.«
    »Schwäche in Bezug auf was?«
    »In Bezug auf alles. Moralische Schwäche, Willensschwäche, Existenzschwäche an sich.«
    Ich lachte. Ein richtiges Lachen, diesmal gelang es mir. »Wenn du es so ausdrückst, gibt es keinen Menschen, der nicht schwach wäre.«
    »Lass doch die Gemeinplätze. Ich sagte es schon. Natürlich haben alle Menschen ihre Schwächen. Aber echte Schwäche findest du ebenso selten wie echte Stärke. Du kennst die Schwäche nicht, die einen pausenlos in den Abgrund zieht, du weißt nicht einmal, dass sie existiert. Nicht alles und jedes lässt sich mit Gemeinplätzen erklären!«
    Ich sagte nichts.
    »Deshalb bin ich auch weg aus der Stadt. Ich wollte nicht, dass die Leute mich sähen, wenn ich weiter herunterkam. Du eingeschlossen. Allein in einer unbekannten Gegend würde ich wenigstens niemandem zur Last fallen. Dass ich …« Ratte verfiel eine Weile in düsteres Schweigen. »Dass ich dem Schaf am Ende nicht entrinnen konnte, liegt auch an dieser Schwäche. Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Ich hätte
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