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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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einem Fenster stand ein Musiker und pfiff fröhlich eine kleine neukomponierte Melodie vor sich hin. Der kleine Tag hätte am liebsten mitgepfiffen.
    Der Nachmittag brachte ihm neue Erfahrungen: spielende Kinder, Leute beim Spazierengehen, Menschen, die sich zum gemütlichen Kaffeetrinken zusammenfanden. Er sah einen jungen Mann an einer Haustür klingeln und ein hübsches Mädchen herauskommen. Die beiden faßten sich an den Händen und gingen in einen Park. Auf der Brücke über einen kleinen Bach blieb der junge Mann stehen und sah dem Mädchen in die Augen. „Ich hab dich lieb!“ sagte er und gab ihr einen Kuß. Dem kleinen Tag wurde ganz heiß vor Freude. Das war sicher das allerschönste Erlebnis für ihn hier auf der Erde.
    Als die Dämmerung kam und der kleine Tag seine Aufgabe erfüllt hatte, eilte er aufgeregt nach Hause. Alle Tage hatten sich schon versammelt und erwarteten gespannt seinen Bericht.
    „Na, wie war’s?“ fragte ihn sein Vater, „bist du ein guter Tag gewesen?“
    „O ja!“ rief der kleine Tag, und alle seine Erlebnisse sprudelten wie ein Wasserfall aus ihm heraus. „... und dann haben sie sich geküßt!“ rief er am Schluß seines Berichtes ganz atemlos und sah sich erwartungsvoll in der Runde um.
    Sein Vater machte nur eine wegwerfende Handbewegung: „Na ja, das kennen wir ja alle, aber nun erzähl mal die interessanten Dinge. Was hat sich denn nun wirklich ereignet?“ Der kleine Tag starrte ihn fassungslos an. „Aber...“ stammelte er, „das ist alles. Das ist doch viel, oder?“
    In den hinteren Reihen begannen einige ältere Tage zu lachen. Schließlich lachten sie alle, die ganze Gesellschaft, bis der kleine Tag in einer riesigen Woge von Gelächter zu ertrinken drohte. „Was?“ rief sein Vater aufgebracht, „es muß doch wenigstens etwas passiert sein! Ein Schiffsunglück vielleicht? Oder eine Flugzeugentführung? Wenigstens ein Banküberfall?“ Der kleine Tag schüttelte den Kopf. Einsam und traurig stand er mitten in dem Gelächter.
    Sein schöner Tag! Und sie fanden ihn langweilig und alltäglich — nichts Außergewöhnliches war geschehen. Er hätte vor Scham versinken mögen.
    „Nicht mal ein...“ begann sein Vater noch einmal, aber er fragte nicht weiter. Der kleine Tag tat ihm leid. „Ein Nichts bist du!“ schrie der Onkel, der die Raumschifflandung auf dem fernen Planeten erlebt hatte, „ein Nichts! Schon morgen hat man dich auf der Erde vergessen! Kein Buch wird dich erwähnen, kein Mensch wird sich an dich erinnern! Geburtstag! Sonne! Liebe! Daß ich nicht lache!“
    Ist Liebe denn wirklich nichts Ungewöhnliches, Schönes? wollte der kleine Tag fragen — aber er traute sich nicht mehr. Er fürchtete die Hänseleien und den Spott der anderen.
    „Komm mit und ruh dich aus“, sagte der Vater und zog ihn fort. „Und ihr macht euch nicht über meinen Sohn lustig!“ rief er giftig den versammelten Tagen zu.
    Die Mutter versuchte ihn zu trösten: „Sei nicht traurig. Du bist ein guter Tag gewesen und hast sehr schöne Dinge auf der Erde gesehen. Weißt du, es kommt gar nicht darauf an, daß möglichst viele Menschen sich an einen Tag erinnern. Wenn du nur ganz wenigen eine Freude geschenkt hast, dann hat sich dein Erdendasein schon sehr gelohnt.“
    Aber der kleine Tag war nicht zu trösten. In den kommenden Tagen und Wochen wurde er überall belacht und verspottet. Er nahm auch nicht mehr an den abendlichen Versammlungen teil. Er wollte nicht hören, was die anderen Tage zu berichten hatten. Einsam saß er in seiner Ecke und machte sich bittere Vorwürfe. Dabei war es doch gar nicht seine Schuld!
    Eines Abends jedoch, viele einsame Tage, Monate, Jahre später, riefen ihn seine Eltern: „Denk dir, einer deiner Neffen kam gerade von der Erde zurück und hat berichtet, daß heute ein Beschluß gefaßt wurde, den 23. Februar zum internationalen Feiertag zu erklären. Und weißt du, warum? Weil an deinem 23. Februar, als du auf der Erde warst, nichts Böses geschehen ist, kein Verbrechen verübt wurde, nirgendwo auf der Erde Kämpfe waren. Eben darum, weil nichts Ungutes passiert ist, soll von nun an jedes Jahr an deinem Tag das Fest des Friedens gefeiert werden. Heute stand es auf der Erde in allen Zeitungen. Ja, wir wußten doch immer, daß du etwas taugst!“
    Der kleine Tag sagte gar nichts.
    Er strahlte.
     

Roland Kübler
    Wahrheit ist unteilbar

    D ie Erde dreht sich um die Sonne, und der Mond zieht seine Bahn um die Erde. Die Sterne flüchten in
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