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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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die Weite des dunklen Alls, und für uns Menschen ist das Außergewöhnliche normal, und niemand verschwendet mehr einen Gedanken daran, wie alles kam.
    Am Fuße einer sanft ansteigenden Bergkette war vor langer Zeit eine kleine Siedlung unterschiedlichster Menschen gewachsen. Das Lehen war zwar nicht einfach, doch jeder hatte dort ein gutes Aus kommen und niemand mußte hungern oder darben.
    Trotzdem war dieses Dorf ein ständiger Ort des Unfriedens. Keiner kam mit seinen Nachbarn aus. Ständig gab es Streit. Jeder glaubte sich im Recht, und natürlich wollte jeder seine Ansichten durchsetzen. Pflanzte einer der Bauern im Frühjahr Schößlinge junger Bäume, war er sich sicher, daß dies genau das richtige für die Bäume sei - und wehe, irgend jemand dachte anders darüber.
    Wenn nun einer in den Bergen wertvolle Steine gefunden hatte, wollte er die Bewohner der Siedlung Abend für Abend im einzigen Kaffeehaus davon überzeugen, daß sie mit solchen Steinen ihr Lebensglück und sogar Reichtum für ihre Enkel und Urenkel finden würden - und wehe, einer der anderen wollte widersprechen.
    Kurierte einer der Bewohner eine kranke Kuh mit einer seltenen Pflanze, die er zufällig in einer Neumondnacht geschnitten hatte, gab es für diesen kein anderes Heilmittel mehr als eben diese Pflanze, geschnitten in einer Neumondnacht. Sie stritten sich entsetzlich, wenn auch nur einer leise Zweifel zu äußern wagte.
    Schließlich wurden der ständige Unfrieden und die immerwährenden Zankereien um Recht und Wahrheit allen zuviel.
    Eines Abends, als sie nach langen Debatten wieder einmal zerstritten vor dem Kaffeehaus saßen, wandten sie sich an den blinden Alten, der an einem Nebentisch schmunzelnd süßen Kaffee schlürfte. „Weißt du, Alter“, begannen sie ein wenig ärgerlich, weil der Blinde immer noch lächelte, „wir finden das gar nicht komisch. Die meiste Zeit, in der wir hier zusammensitzen, streiten wir, wer von uns nun Recht hat und wirklich die Wahrheit sagt.
    Und du sitzt hier und lachst. Was freut dich denn an unserem Streit?“
    Der Blinde drehte den Kopf ein wenig: „Ich lache über euch, weil ihr alle zusammen wie unwissende Kinder seid!“
    Die Männer wurden wütend: „Dann sag doch du, wer von uns im Recht und was wirklich wahr ist!“ schrien sie den Blinden an.
    „Ihr braucht nicht zu brüllen, daß die Fenster klirren, ich sehe zwar nichts mehr, dafür höre ich aber umso besser. Wahrheit ist überall dort, wo wahrhaftige Menschen sind. Aber ich weiß, ihr könnt das nicht verstehen. Kommt heute in einer Woche wieder hierher, dann werde ich euch zeigen, was Wahrheit ist.“ Daraufhin drehte sich der Alte wieder weg, führte seine Tasse an den Mund und sagte auch auf das Drängen der Leute nichts mehr.
    Am Abend jedoch gab er seinem Enkel einige Anweisungen, und dieser machte sich früh am nächsten Morgen auf den Weg in die Stadt. Zwei Tage später kehrte er zurück und berichtete seinem Großvater, der wie gewohnt unter dem großen Baum vor dem Kaffeehaus saß, daß alles wunschgemäß erledigt sei.
    Die Tage verstrichen träge, wie süßer Honig, zähflüssig vom Zucker der Bienen. Die Siedlungsbewohner stritten wie gewohnt und konnten kaum erwarten, bis die Woche vorbei war. Endlich war es soweit. Man versammelte sich wieder vor dem Kaffeehaus. „Was also ist die einzige und wirkliche Wahrheit? Wer von uns ist im Recht?“ bestürmten sie den blinden Alten. Dieser lächelte versonnen und rastete mit einer Hand nach dem Arm seines Enkels, der hinter ihm wartete. „Kommt mit ins Haus“, sagte der Junge, „mein Großvater wird euch die Wahrheit lehren.“
    Im Kaffeehaus war es dunkel wie noch nie. Vor den Fenstern wölbten sich die Vorhänge im Wind. Nur eine kleine Kerze brannte, um den Männern den Weg zu weisen. Der Blinde stand mitten im Raum. Mit erhobenen Händen bat er um Ruhe. „Wenn ihr hier zum Hinterausgang hinausgeht, werdet ihr in ein dunkles Zelt kommen. Darin findet ihr ein fremdartiges Tier. Es braucht die Dunkelheit, denn es scheut so viele Berührungen bei Licht. Geht also alle hinein und lernt dieses Tier kennen. Sagt mir danach, wie es aussieht. Dann werde ich euch sagen, was Wahrheit ist.“
    Zunächst standen die Männer ein wenig hilflos im Raum. Der Blinde war bekannt für seine komischen Ideen. Aber da sich keiner vor den anderen eine Blöße geben wollte, drängten sie schließlich alle in das dunkle Zelt. Als sie nach einiger Zeit, einer nach dem anderen, wieder vor
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