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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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dem Kaffeehaus erschienen, saß der Alte still da und bewegte manchmal nur ein wenig den Kopf, um sich mehr der Sonne zuzuwenden. Als alle bei ihm standen, wandte er sich ihnen zu: „Nun, wie also sieht dieses fremde Tier aus?“
    Ein Mann trat vor: „Ich habe es sehr genau befühlt. Das Tier ist wie eine große rauhe Säule. Es steht fest und unerschütterlich im Raum. Nichts und niemand kann es umstoßen.“ Ein anderer widersprach aufgeregt: „Blödsinn! Das fremde Tier ähnelt einem großen Fächer. Ich hab es genau gespürt. Das Tier ist dünn und groß wie ein Stück Pergament, und es bewegt sich hin und her.“ Ein dritter mischte sich ein: „Was erzählt ihr denn da? Das fremde Tier in dem Zelt ist in Wirklichkeit ein glattes, spitzes Lebewesen, fast wie ein polierter großer Säbel.“ Dann erklärte ein vierter alle anderen für Dummköpfe; das Tier sei in Wahrheit weich und biegsam, anschmiegsam und zärtlich. Ein fünfter wetterte gegen die anderen; denn seiner Ansicht nach glich das fremde Tier mehr einer großen Schlange, die am Ende so etwas Ähnliches wie einen Rasierpinsel hat.
    Jeder behauptete etwas anderes, und in kürzester Zeit zankten die Männer unter dem großen Baum, wie sie noch nie in ihrem Leben miteinander gestritten hatten. Der blinde Alte saß zwischen den schreienden, keifenden, wütenden Menschen und rührte in seinem Kaffee. Endlich hob er die Arme und bat um Ruhe. „Vor vielen Jahren, bevor die Blindheit meine Augen segnete - seither muß ich nämlich das Elend dieser Siedlung nicht mehr mitansehen —“ begann er und lächelte dabei spöttisch, „war ich oft mit einem reichen Kaufmann in fernen Ländern unterwegs. Während dieser Reisen habe ich jenes Tier kennengelernt. Einmal bin ich sogar darauf geritten!“
    Wütender Protest unterbrach den Blinden. „Wie, bitte, kann man auf einem Säbel reiten?“ rief einer. „Oder auf einer Schlange mit einem Rasierpinsel am Ende?“ lachte ein zweiter. „Oder auf einer Säule?“ rief hämisch ein dritter.
    Der Alte hob wieder die Hände. „Wollt ihr nun wissen, wer von euch recht hat und was Wahrheit ist?“
    „Ja, ja“, riefen die Männer aufgeregt, „das wollen wir wirklich gerne. Also laß deine Lügenmärchen und komm endlich zur Sache!“
    Der Alte wartete, bis alle still waren. Dann sagte er leise: „Ihr habt alle recht.“
    Wieder protestierten die Männer laut und aufgeregt: „Das kann nicht sein“, sie waren sehr aufgebracht, „hast du nicht sogar einmal gesagt, die Wahrheit sei unteilbar?“
    „Ja, das habe ich tatsächlich gesagt“, erwiderte der Alte ruhig. „Aber“, und jetzt erhob er seine Stimme, „ich habe auch gesagt, wer die Wahrheit wissen will, muß selbst wahrhaftig sein! Ihr habt euch auf eure Finger und Hände verlassen. Habt ihr keine Nase, keine Ohren und schmeckt ihr denn gar nichts? Könnt ihr so einfach auf eure Augen verzichten? Die Wahrheit ist wirklich unteilbar, nur ist sie manchmal zu groß, um von den Sinnen eines einzelnen Menschen erfaßt zu werden. Und ihr habt euch nur auf einen eurer Sinne verlassen! Ihr selbst habt die Wahrheit aufgeteilt — und weil sie unteilbar ist, habt ihr alle recht!“
    „Jetzt ist er völlig übergeschnappt“, murmelten die Männer. „Er hat zu lange in der Mittagssonne gesessen. Sie hat ihm das Hirn ausgetrocknet.“
    Dann belächelten sie ihn mitleidig und zürnten mit sich selbst, weil sie überhaupt auf die Idee gekommen waren, diesen Alten um Rat zu fragen. Langsam entfernten sie sich. Doch eine ungewohnt scharfe, spottende Stimme rief sie zurück: „Ihr vergeßt schon wieder etwas, das ihr durch die unfaßbare Großzügigkeit der Natur geschenkt bekommen habt, obwohl ihr es wirklich nicht verdient. Wo habt ihr denn euren Verstand gelassen? Wollt ihr nicht einmal nachprüfen, ob ich nicht doch recht habe?“
    Etwas beschämt drehten sich die Männer wieder um und kehrten zu dem Tisch des Alten zurück.
    „Er hat recht“, sprachen sie, „warum sollen wir uns das fremde Tier nicht einmal bei Tageslicht betrachten?“
    Auf ein Zeichen seines Großvaters verschwand der Enkel hinter dem Kaffeehaus, um das rätselhafte Tier zu holen. Plötzlich dröhnte es hinter dem Haus in wildem Klang: „Vielleicht ist das fremde Tier auch eine Trompete?“ kicherte der blinde Alte. Dann zitterte die Erde unter schweren Schritten. „Oder ein kleines Erdbeben?“ Der Alte schwankte gefährlich auf seinem Stuhl vor Lachen.
    Und dann führte sein Enkel das
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