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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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zwingen, auch einmal einen Besucher abzuweisen. Heute ist bei mir ein solcher Fall, bitte habt dafür Verständnis und laßt mich in Ruhe’. So wartete sie weiter auf ihren hohen Besuch, bis es Nacht wurde und Gott noch immer nicht gekommen war. Schließlich schlief sie enttäuscht ein und träumte wieder: ,Drei Mal habe ich heute bei dir angeklopft‘, sagte Gott im Traum zu ihr, ,und drei Mal hast du mich abgewiesen.’ Und deshalb, Ihr hohen Herren, gibt es bei dem fahrenden Volk den Grundsatz, keinen Besucher abzuweisen, denn niemand kann wissen, ob es nicht sogar der liebe Gott selbst ist.“
    Der erste Ratsherr dankte höflich für die Antwort und trat nachdenklich zurück. Der zweite begann nun: „Verehrter Roman, Eure Geschichte wird uns zu denken geben, doch es gibt noch andere Dinge, die uns zu dieser Vorsprache zwingen. Ihr wißt ja, daß wir eine christliche Stadt sind. Nun pflegt Ihr unseren Kindern Geschichten zu erzählen, die manchmal etwas unchristlich erscheinen. Auch deshalb wäre es angebracht, unsere Kinder für ein paar Jahre vor diesen Geschichten zu bewahren, meint Ihr nicht auch?“ Wieder nickte Roman und wieder sagte er, daß er mit einer Geschichte antworten wolle: „Mag sein, daß es so war, mag sein, daß es nicht so war, auf jeden Fall ist es noch gar nicht lange her, da besuchte Gottes Sohn wieder einmal die Erde, um zu sehen, wie es sich heute unter christlichen Menschen lebt. Er war angetan davon, daß in jeder Stadt wenigstens ein Gotteshaus stand, in welchem Gemälde und Standbilder davon zeugten, wie sehr man ihn verehrte. Frohen Mutes wandte er sich an die Menschen, um mit ihnen zu sprechen und ihnen zu predigen. Da geschah etwas Seltsames: Immer wenn er seinen Namen nannte, wandten sich die Menschen von ihm ab, tippten sich an die Stirn oder lachten ihn aus. Jesus wunderte sich sehr und begriff das alles nicht. Dennoch begann er auf großen Plätzen zu predigen. Doch da erging es ihm ähnlich. Manches Mal wurde er beschimpft oder gar bedroht, nannte man ihn einen Herumtreiber, der sich erst einmal waschen und die Haare schneiden solle. Hier führe man ein ordentliches und christliches Leben und könne Leute wie ihn nicht brauchen. Er war vollkommen verwirrt, weil er doch genau so aussah, wie er überall dargestellt wurde. Er verstand nicht, was auf einmal an seinem Äußeren auszusetzen war. In seiner Ratlosigkeit wandte er sich an einen Geistlichen und bat für das alles um eine Erklärung. Dieser hörte ihm wenigstens geduldig zu, lud ihn ein, bei ihm zu verweilen, gab ihm zu essen und zu trinken. Doch schon nach kurzer Zeit kamen einige weiß gekleidete Männer in das Haus des Priesters und nahmen Jesus mit, angeblich um ihm zu helfen. Doch sie sperrten ihn in ein großes Haus für Menschen, die an Geist und Seele krank waren. Also beschloß er, ein paar Wunder zu tun und einige der Kranken zu heilen. Noch ehe er damit beginnen konnte, wurde er gefesselt und mit eigenartigen Spritzen traktiert, bis er sich nicht mehr gegen den Schlaf wehren konnte. Da beschloß er verwirrt und enttäuscht, die Erde wieder zu verlassen und darüber nachzudenken, was die Menschen mit ihrem Christentum wirklich meinen. Mit seinen Lehren hatte das alles ja wirklich nichts zu tun. Und deshalb“, so schloß Roman, „gibt es bei uns Zigeunern den Spruch, daß nur der sich christlich nennen solle, der auch wirklich im Sinne von Gottes Sohn lebt und handelt.“
    Betroffen trat der zweite Ratsherr zurück und vergaß sogar, sich zu bedanken. Doch nun kam der dritte an die Reihe und sagte mit fast schüchterner Stimme: „Im Grunde, lieber Roman, geht es uns nur darum, daß wir befürchten, Ihr könntet mit Euren Geschichten unsere Kinder verderben und ihre Erziehung stören, wenn Ihr versteht, was ich meine. Könntet Ihr nicht doch unsere Stadt meiden, wenigstens für ein paar Jahre?“
    Dieses Mal lachte Roman und sagte: „Wißt Ihr, hohe Herren, dazu fällt nicht einmal mir eine Geschichte ein. Ich will Euch einmal etwas sagen: Es stimmt, ich erzähle Euren Kindern viele seltsame Geschichten, so wie auch Ihr zwei Geschichten gehört habt. Aber diese Geschichten verderben nicht, sondern sie heilen. Wenn ich mit Euren Kindern beisammensitze, dann erzähle nicht nur ich, sondern sehr oft höre ich den Geschichten Eurer Kinder zu, wenn sie nach ein paar Märchen selbst zu reden anfangen. Und das solltet auch Ihr einmal tun: Hört nur einen Tag lang Euren Kindern aufmerksam zu! Ihr alle erzieht Eure
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