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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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züngelnd folgte der Harpune das dicke Seil. Mit einem dumpfen Klatschen bohrte sich das geschmiedete Eisen in den mächtigen grauen Rücken des Wales. Ein entsetzlicher Ton dröhnte dumpf aus dem Leib des Wales und bohrte sich in Aminas Herz. „Ich hab ihn!“ schrie der Jäger. Gier glitzerte in seinen Augen. „Leute, ich hab ihn. Laßt das Seil laufen, er wird uns nicht mehr entkommen!“ Das Wasser begann sich rot zu färben. Die Schreie des Wales stiegen mit einer blutigen Wasserfontäne in die Luft.
    „Das Seil!“ Amina warf die Ruder weg. „Ich muß das Seil zerschneiden, sonst werden sie ihn töten!“ Sein langes Messer zwischen den Zähnen, sprang er ins kalte Wasser und schwamm zu dem gespannten Seil zwischen dem flüchtenden Wal und dem Boot der Jäger. Mit einer Hand klammerte er sich krampfhaft an das dicke Tau, und während er immer wieder unter die Wellen gezogen wurde, zerschnitt er Strick um Strick das Seil, an dem der Wal gefangen war. Die Jäger brüllten vor Wut und drohten mit geballten Fäusten. Aber keiner wagte, noch eine Harpune zu werfen aus Angst, Amina zu treffen. Ländlich hatte dieser den letzten Strick durchschnitten, und der Wal schoß befreit hinaus in die Weite des Meeres. Amina hing erschöpft am Tau, und der Wal zog ihn hinter sich her. Jorge stand in seinem kleinen Boot, die Flöte Aminas in der Hand und weinte. Die Jäger waren verstummt, und ihre Boote trieben kraftlos im aufgewühlten Wasser.
    Es war schon fast Nacht, als sie Jorges Boot ins Schlepptau nahmen und zurück ruderten. Jorge saß die ganze Fahrt über teilnahmslos da und starrte hinaus auf das Meer.
    Die Zeit läßt sich nicht aufhalten. Das Leben im Dorf ging weiter. Die Tage wurden kürzer, die Kraft der Sonne schwand, und ein langer dunkler Winter legte sich über das Dorf, das Land und das Meer. Jorge war ein anderer geworden. Oft saß er stundenlang unten bei den Booten, die der Winter mit einem dicken Eismantel umhüllt hatte. Die Bucht lag schweigend und erstarrt, und der trübe, schneeschwere Himmel verdeckte den Blick aufs offene Meer.
    Dann endlich kehrte die Sonne mit neuer Kraft zurück. Das trockene Eis der kleinen Bäche barst, und die Bucht schälte sich langsam aus dem dicken Panzer des Winters. Die ersten Blumenknospen drängten sich vorwitzig aus der inzwischen dünnen Schneedecke, und die Vögel kamen von langer Reise, um ihre Nester zu bauen.
    Jeden Tag fuhr Jorge mit seinem kleinen Boot aus der Bucht hinaus auf das offene Meer. Dort legte er die Ruder ins Boot, ließ sich treiben und spielte auf der Flöte Aminas. Erst spät am Abend kehrte er ins Dorf zurück und setzte sich zu den anderen ans Feuer. Diese sahen ihn erwartungsvoll an, aber Jorge sprach kein Wort. Einige Zeit vor dem Fest der Sonnenwende erlegten die Jäger einen Wal, und das Dorf feierte den glücklichen Fang. Am Sonnwendfest standen Alte und Junge am Meer. Das große Feuer leuchtete und warf zuckende Schattenspiele auf die Wellen. Die Menschen sangen die alten Dankeslieder für die Wale. Still und aufmerksam horchten sie danach hinaus auf das Meer — doch außer dem gleichmäßigen Murmeln der Wellen hörten sie nichts.
    Am nächsten Morgen fuhr Jorge, wie üblich, allein hinaus vor die Bucht. Er spielte Flöte, wie Amina sie gespielt hatte, und die Töne füllten die Stille des Meeres. Und als er einmal aufhörte, um eine kleine Pause zu machen, hörte er, wie tief unter ihm seine Melodie fortgesetzt wurde. Es war ein dünner, zarter Gesang, den Jorge hörte, anders als die machtvolle Stimme des alten Wales. Er griff wieder zur Flöte und spielte, wie er noch nie in seinem Leben gespielt hatte und wie er nie wieder danach spielen würde. Sein Herz und seine Seele zeichnete er in Tönen auf das Wasser und in den glasigen Himmel. Und dann kam eine Antwort, die er kannte. Das war die Melodie des alten Riesen, und sie war nahe, sehr nahe.
    Und wieder teilte sich das Wasser und die Welt. Und der Wal war da. Er lag still. Jorge setzte die Flöte ab, denn da war noch ein anderer Ton im Wasser: jene dünne, zarte Musik, die er zuvor gehört hatte. Jorge schaute angestrengt hinüber zu dem alten Wal, auf dessen Rücken eine dicke Narbe zu sehen war. Dieser rührte sich nicht. Doch dann sah Jorge neben der gewaltigen Schwanzflosse des mächtigen Alten eine Bewegung. Prustend und zischend blies dort ein anderer Wal eine kleine Fontäne in den Himmel. Plötzlich legte sich ein ungestüm fröhlicher Gesang über die Wellen, und
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