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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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beendet und lag still neben dem Boot. Dann richtete er sich mit einem sanften Ruck hoch aus dem Meer und beugte sich nach vorne. Die gewaltige Schwanzflosse schien den Himmel auszulöschen. Ohne das Meer aufzuwühlen, verschwand er in der Tiefe.
    Aminas Stirnnarbe pulsierte in einem stillen Rot. Er nahm die Flöte, und während Jorge zurück ins Dorf ruderte, spielte er dem Wal die Melodie seines Verstehens.
    Es war Nacht, als die beiden ihr Boot an den Strand des Dorfes zogen. Der Mond strich mit silberner Hand über die Wellen, und die Hunde bellten erfreut die beiden Heimkehrer an. Das ganze Dorf: Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge — alle saßen um ein großes Feuer. Es war wie beim Fest der Sonnenwende. Und doch: Etwas war anders.
    Niemand sprach ein Wort. Erst als Jorge und Amina sich ans Feuer setzten, sprach sie einer der Alten an: „Der Wal hat den ganzen Tag gesungen. Das gab es noch nie. Was habt ihr erlebt?“ Die beiden berichteten so gut sie konnten, und die Menschen hörten gebannt zu. Die Alten nickten bedächtig. Die jungen Jäger schüttelten die Köpfe und manchmal kicherten sie ein wenig.
    Als Jorge und Amina verstummten, regte sich lange nichts. Die meisten Dorfbewohner saßen einfach nur da und schauten gedankenverloren ins Feuer. Schließlich richtete sich einer der Alten ein wenig auf: „Ihr habt die Geschichten und Mythen unserer Ahnen wieder gefunden. Dafür sei euch Dank. Nun aber liegt es an uns, sie zu verstehen, zu bewahren und weiter zu verbreiten.“ Ein junger Jäger erhob sich: „Unsinn ist das“, begann er wütend. „Alte Geschichten! Mythen! Warum habt ihr ihn nicht getötet? Die Händler hätten uns gut dafür bezahlt!“ Eine schlohweiße Alte richtete sich mühsam auf und deutete mit einem knochigen Finger auf ihn: „Wie kannst du es wagen, ein Geschöpf zu töten, das viele Generationen älter ist als du und mehr Wissen von der Welt hat, als du jemals haben wirst?“ Wieder sprang der Jäger auf und schüttelte wild seine Harpune: „Ich wage es, weil ich einen guten Preis dafür bekomme! Und habt ihr Alten nicht auch schon immer Wale getötet?“ Die Greisin sah den Jäger mitleidig an: „Ja“, sagte sie dann und setzte sich ächzend wieder ans Feuer, „auch wir haben Wale getötet, aber nicht um sie zu verkaufen, sondern um Nahrung für den Winter zu haben.“ Aminas Narbe auf der Stirn war angeschwollen vor Wut: „Wenn du bei uns im Boot gewesen wärst und den Gesang des Wales gehört hättest, dann würdest du jetzt auch verstehen!“
    „Blödsinn“, murmelte der Jäger, senkte dann aber den Kopf und setzte sich wieder hin. „Fahr morgen mit uns hinaus“, fuhr Amina fort. „Ihr alle, die ihr es nicht glaubt, kommt morgen mit — vielleicht könnt ihr dann verstehen.“ Noch lange saßen in dieser Nacht Männer und Frauen, Alte und Junge am Feuerplatz des Dorfes und sprachen aufgeregt miteinander.
    Früh am nächsten Morgen versammelten sich die Dorfbewohner am Strand bei den Booten. Fast alle fuhren mit hinaus aufs offene Meer. Wie am Tag zuvor spielte Amina auf der Flöte, und wieder teilte sich das Meer, und die Welt stand still, als der Wal erschien. Er lag da, sah die Menschen in ihren Booten, und sein Gesang war mächtig und stark. Noch während er sang, teilte sich hinter ihm das Meer und wieder und wieder. Hunderte von Walen brachen die Wellen, und das Meer tobte und schäumte.
    „Ein ganzes Rudel Wale!“ schrien die jungen Jäger. „Schaut sie euch an! Schnell, die Harpunen! Los Männer! Rudert! Rudert!“
    Entsetzt legte Amina die Flöte zur Seite. Die Narbe an seiner Stirn war blutleer und glänzte wie ein kalter Wintermond. „Nein!“ brüllte er. Und nochmals: „Nein! Das könnt ihr nicht! Das dürft ihr nicht tun!“
    „Sei ruhig, du Spinner!“ lachten die Jäger zurück. „Die Händler warten schon auf dieses Fleisch und Fett!“ Mit wilder Anstrengung tauchten die Jäger ihre Ruder ins Wasser und trieben das Boot auf den großen Wal zu. Am Bug stand ein junger Jäger. Die Harpune in seinen Händen glänzte gefährlich. „Schnell, Jorge!“ Amina griff nach den Rudern. „Wir müssen ihnen den Weg abschneiden!“ Hastig brachten die beiden ihr Boot zwischen den Wal und die Jäger. Aber sie waren nicht schnell genug. Wie eine Feder hatte sich der Jäger nach hinten gebogen. Die Harpune schien auf die Sonne zu zielen, dann schnellte der Jäger nach vorne, und mit aller Kraft schleuderte er die Waffe gegen den Wal. Zischend und
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