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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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Jorge sah einen jungen Wal, der aufgeregt und wild auf ihn zu schwamm. Die Wellen spien Gischt, und der junge Wal rollte sich in den Wellen und tobte durchs Meer, als er Jorge sah.
    Und Jorge sah den jungen Wal, und auf der Stirn des Wales pochte aufgeregt und freudig eine kleine Narbe zum Takt seiner Melodie.
     



Wolfram Eicke
    Der kleine Tag
     
    E s war einmal ein kleiner Tag. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern dort, wo alle Tage leben, bevor sie auf die Erde kommen, und wo sie auch nachher bleiben, wenn die Nächte sie wieder von der Erde verscheucht haben. Kein Mensch weiß, wo dieser Ort ist, denn wer könnte schon sagen, wo die Tage bleiben, wenn sie ihren Dienst erfüllt haben? Jeder von ihnen kommt nur ein einziges Mal auf die Erde. Ein Tag ist einmalig.
    Und so ist es natürlich der Höhepunkt im Leben eines Tages, wenn er auf die Welt zu den Menschen kommt.
    Unser kleiner Tag, von dem hier die Rede ist, war voller Aufregung und Freude, wenn er an den so wichtigen Zeitpunkt seiner Erdenreise dachte. Aber er mußte noch lange warten, denn er würde der 23. Februar eines ganz bestimmten Jahres sein, und es war erst Mai im Jahr davor. Vordrängeln konnte er sich nicht, denn die Reihenfolge, in der die Tage die Welt betreten, ist streng festgelegt.
    So konnte der kleine Tag nur von seinem zukünftigen Erdengang träumen, und mit staunenden Augen hörte er zu, wenn seine Verwandten von ihrem Besuch auf der Erde erzählten.
    Sein Vater war ein sehr berühmter und gefürchteter Tag gewesen, an dem sich ein grauenhaftes Erdbeben ereignet hatte, das die Menschen noch Jahrzehnte später nicht vergessen konnten. „Die ganze Welt zitterte“, erzählte sein Vater stolz, „und ich bin in allen Geschichtsbüchern erwähnt.“
    Seine Mutter wurde von den anderen Tagen ebenfalls sehr respektvoll behandelt. Als sie Tag war, hatten zwei Völker nach einem langen Krieg endlich Frieden geschlossen. Immer wieder wollte der kleine Tag hören, wie sich damals die Menschen lachend und weinend vor Freude umarmten und wie schön dieser Tag gewesen sei.
    Ein Onkel war sehr stolz darauf, daß er die erste Landung eines Raumschiffes auf einem fernen Planeten gebracht hatte, und seine Großmutter konnte gar nicht genug von der Hochzeit eines Königspaares erzählen, die mit großer Pracht gefeiert wurde, als sie Tag war.
    Jeden Abend, wenn ein Tag von der Erde zurückkam, mußte er genau berichten, was sich während seiner Amtszeit ereignet hatte. Voller Begeisterung hörte der kleine Tag Erzählungen von ruhmreichen Taten, Erfindungen und großen Festen, aber auch von Schneekatastrophen, Dürre- und Hungerzeiten, von Flugzeugabstürzen, Explosionen und Gewalttaten.
    „Es ist ganz wichtig“, sagte sein Vater eines Tages, „daß etwas Ungewöhnliches passiert, wenn du auf der Erde bist, damit man sich an dich erinnert. Sonst ist dein ganzes Leben sinnlos. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob etwas Gutes oder Böses geschieht. Hauptsache, du hinterläßt einen bleibenden Eindruck auf die Menschen.“
    „Wenn ich einmal auf der Erde bin“, dachte der kleine Tag, „dann wird sicherlich etwas ganz, ganz Großes geschehen, etwas, was es noch nie gegeben hat. Nicht nur ein kümmerliches Erdbeben oder die Hochzeit eines Königspaares.
    Nein, 100 Könige sollen gleichzeitig heiraten, alle Völker der Erde sollen Frieden schließen und versprechen, niemals wieder Krieg zu führen. Es wird ein gewaltiges Feuerwerk geben, weil die Menschen alle Waffen in die Luft sprengen werden. Auf jedem Stern im Weltall landet ein Raumschiff, eine riesige Flutwelle überschwemmt die Hälfte der Erde, und, und, und...
    So träumte der kleine Tag unaufhörlich, und es fiel ihm immer schwerer, seinen großen Auftritt abzuwarten.
    Schließlich, nach scheinbar endlosen Monaten und Wochen des Wartens, war der große Augenblick gekommen. Es war stockfinster, als der Vater den kleinen Tag rief: „Es ist soweit. In einer halben Stunde beginnt der 23. Februar. Gleich bist du ein Tag auf der Erde!“ Sein Vater begleitete ihn noch ein Stück, damit er den richtigen Weg fand, und dann war es soweit! Schrittweise zog sich die Nacht vor dem kleinen Tag zurück, bis sie ganz verschwunden war. Der kleine Tag jubelte: „ Jetzt regiere ich die Welt!“
    Aber schon bald erlebte er die erste Enttäuschung. Die strahlend goldene Sonne, von der sein Vetter im Juli so geschwärmt hatte, war nirgends zu sehen. Grauer Nebel verhüllte die frühen Morgenstunden.
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