Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
Vom Netzwerk:
Alles sah trübe und dunstig aus, feucht und kalt. Der kleine Tag wollte sich aber nichts daraus machen, es gab doch soviel Neues, Fremdes und Aufregendes zu sehen.
    In allen Städten wälzten sich Tausende von Menschen durch die Straßen zu ihrer Arbeitsstelle. Autokolonnen, Busse, Züge, Bahnen — alles drängte, schob und wimmelte. Der kleine Tag mußte lachen: Es sah zu lustig aus, wie sie da unten alle in verschiedenen Richtungen durcheinanderkrabbelten.
    Er betrachtete die Menschen genauer. Nein, freundlich sahen die nicht aus! Die meisten hasteten mürrisch und lustlos durch die Straßen, hatten die Mantelkragen hochgeschlagen und sahen grimmig geradeaus oder zum Boden. Niemand schien den kleinen Tag zu beachten.
    „Hallo, hier bin ich!“ rief er. „ Ich bin heute euer Tag! Freut ihr euch nicht, mich zu sehen?“
    Aber die Menschen freuten sich nicht. „Was für ein lausiger Tag“, sagte ein Mann zu seinem Arbeitskollegen. „Dieser widerliche Nieselregen geht mir ganz schön auf die Nerven.“
    „Ja, abscheulich“, bestätigte der andere. „Meine Frau bekommt sicher wieder die Grippe bei diesem Wetter. Wenn doch bloß die Sonne ein wenig scheinen würde!“
    Ja, die Sonne! Wo war sie? Der kleine Tag konnte sie nirgendwo entdecken. „Bitte, liebe Sonne“, rief er, „komm doch hervor und mache die Welt an meinem Tag etwas schöner, damit die Menschen nicht alle so grimmig sind.“
    „Das kann ich nicht“, sagte die Sonne, die von einer graufetten Regenwolke verdeckt wurde. „Ich habe noch nicht die Kraft dazu. Komm im Frühling oder besser noch im Sommer wieder, dann will ich so scheinen, daß deine Augen geblendet werden. Aber im Februar bin ich dazu noch zu schwach.“
    Der kleine Tag war ganz verzweifelt. „Aber ich bin doch nur heute!“ rief er. „Ich kann doch nicht wiederkommen. Nie kann ich wiederkommen. Im Frühling und im Sommer sind die anderen dran. Bitte, liebe Sonne, schein doch wenigstens ein ganz kleines bißchen!“
    Die Sonne hatte Mitleid mit ihm. Mit aller Kraft preßte sie ein paar dünne Strahlen hervor. Der kleine Tag hatte so etwas noch nie gesehen. Er sah verzückt und verzaubert, wie die Sonnenstrahlen auf einen Waldweg fielen und sich das Licht in den Regentropfen spiegelte.
    „Hurra!“ rief der kleine Tag, „freut ihr euch jetzt, daß ich hier bin?“ Doch die Sonne hatte zu kurz geschienen. Kaum ein Mensch in der Stadt hatte die wenigen Sonnenstrahlen bemerkt, und jetzt war es wieder so grau wie zuvor. Allerdings regnete es nicht mehr, und der Nebel hatte sich aufgelöst. „Immerhin etwas“, tröstete sich der kleine Tag. Aber ein wenig traurig war er trotzdem noch.
    Doch was war das? Auf einem Schulhof stand ein Junge mit einem funkelnagelneuen Fahrrad, umringt von seinen Klassenkameraden. „Woher hast du denn das tolle Rad?“ fragte einer von ihnen. „Na, wißt ihr denn nicht, was heute für ein Tag ist? Heute ist doch der 23. Februar, und das ist mein Geburtstag. Das Fahrrad ist mein Geburtstagsgeschenk!“ Der kleine Tag jauchzte. Endlich freute sich jemand über ihn. „Für diesen Jungen bin ich der Höhepunkt des ganzen Jahres“, dachte der kleine Tag glücklich. Mit neuem Eifer schaute er sich auf der Welt um.
    Er sah das Meer! Die Wellen klatschten gegen die Felsen am Strand, und die Gischt sprühte schäumend auf. Es war ein wundervolles Schauspiel, von dem sich der kleine Tag kaum losreißen konnte. Sein Blick streifte über die Berge. Ein Bergsteiger mühte sich keuchend, einen schneebedeckten Gipfel zu bezwingen. Als er oben angekommen war, lachte er und genoß den weiten Blick ins Tal. Der kleine Tag freute sich mit ihm. Er sah viele Städte, und verwundert schaute er den Menschen zu. Offenbar hatten die meisten nicht viel Freude an ihrer Arbeit. Männer mit stumpfen Gesichtern betätigten Hebel, Knöpfe und Schalter. Sie stellten Gegenstände her, deren Sinn und Zweck der kleine Tag nicht verstand. In einer großen Halle standen lange Schlangen wartender Menschen. Sicher gab es dort etwas Besonderes! Aber nein: Wenn die Menschen schließlich einen Schalter erreicht hatten, hinter dem ein strengblickender Mann saß, mußten sie viele Kreuze in kleine Kästchen auf Papierbögen machen und auch noch Geld dafür bezahlen. Der kleine Tag wunderte sich.
    In einem Park saß ein Mann auf einer Bank und schrieb. Als er fertig war, sah er sich zufrieden lächelnd um. Er hatte bestimmt etwas besonders Schönes geschrieben. Der kleine Tag freute sich. In
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher