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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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Hühner, verstummte der Gesang. Heute hören wir ihn zum ersten Mal wieder.“
    Dann war es lange Zeit still an den Feuerstellen, und die Alten schauten ein wenig betreten auf die Erde oder hinaus in die Endlosigkeit des Meeres. Schließlich hüstelte einer von ihnen verlegen, scharrte mit den Füßen einige kleine Steine zusammen und meinte dann: „Leider ist es so, daß wir die Sprache der Wale schon lange nicht mehr verstehen. Wir hören nur ehrfurchtsvoll den Gesang. Der Wal ist da und will uns etwas sagen - wir verstehen ihn aber nicht mehr.“
    Jorges Blick verlor sich im verglimmenden Feuer und Aminas Stirnnarbe pochte vor Aufregung und leuchtete rot.
    Am nächsten Morgen fuhren die beiden Männer mit ihrem kleinen Boot hinaus in die Bucht. Die See wälzte sich grau wie flüssiges Blei, und die Sonne versteckte sich noch auf der anderen Seite der Welt. Der frühmorgendliche Himmel hatte die Farbe frischgeschlagener Buttermilch, und Meer und Erde schwiegen. Am frühen Vormittag, die Sonne fand noch nicht die Kraft, den festgeknüpften Wolkenteppich zu durchdringen, waren die beiden auf dem offenen Meer. Langsam, doch gewaltig und voller Kraft, zogen die salzigen Wellen ihren nie unterbrochenen Weg. Keine Möwe krächzte über ihnen, und ihr Dorf war nur noch als kleiner Punkt am diesigen Horizont zu erkennen.
    Jorge und Amina wußten nicht so recht, was sie jetzt tun sollten. Sie waren aufgebrochen, um die Geschichte der Alten zu überprüfen. Aber wie sollten sie jetzt den Wal rufen? Jorge versuchte es mit den wenigen überlieferten Liedern seines Volkes, die er noch kannte. Vielleicht würde der Wal sich erinnern und darauf antworten — aber das Meer blieb ruhig und rollte sich behäbig im leichten Wind. Amina griff zu seiner kleinen Flöte. Zögernd und vorsichtig legte sich eine feingesponnene Melodie auf die Wellen und ließ sich von diesen forttragen. Immer dichter und kräftiger wob Amina seine Töne, bis sie schließlich eins wurden mit dem Rhythmus des Meeres und dem Takt der Wellen. Amina hatte die Augen geschlossen, seine Stirnnarbe pochte und leuchtete, und auch er schien sich mittragen zu lassen vom geheimnisvollen Miteinander seiner Melodie und der Kraft der Wellen. Und plötzlich hörten die beiden aus der dunklen Tiefe unter sich eine Antwort. Töne trieben zu ihnen empor, stiegen über das Wasser und verknüpften sich mit Aminas Musik. Es war nichts Fremdes in diesen Tönen, nichts Gefährliches oder Bedrohliches. Nein, im Gegenteil, die kleinen Gischtkronen der Wellen tanzten zu diesem Rhythmus wie Kinder in einem fröhlichen Sommerregen.
    Und dann brach die Oberfläche des Meeres entzwei. Es schien, als würde sich die Erde teilen.

     
    Der Wal war da.
    Und es gab nichts mehr außer ihm, was von Bedeutung gewesen wäre. Der Wind verstummte, und die Wellen standen still in der Zeit. Amina hielt die Flöte in den Händen, seine Stirnnarbe pochte und klopfte vor Aufregung und Freude. Der Gesang des Wales legte sich wie ein schweres, warmes Tuch über das Boot, die beiden Männer und das Meer.
    Die Melodie brach in Jorge und Amina ein und wischte alles weg, was vorher dagewesen war. Nichts existierte mehr außer diesem Gesang. Nichts hatte mehr Bedeutung und nichts würde nach diesem Moment wieder so sein wie zuvor. Der Wal kam langsam näher, und das Boot wirkte klein und zerbrechlich neben diesem gewaltigen Kopf, der sich fast zärtlich am Bootsrand rieb.
    Das Auge des Wales war jetzt auf ihrer Höhe. Der Gesang verstummte. Lange Zeit lag der Meeresriese so neben ihnen, und sein Blick leuchtete jeden noch so geheimen Winkel der beiden Menschen aus. Und dann begann er wieder zu singen. Die Melodie strömte aus dem Innersten des riesigen Körpers. Die zwei Jäger in ihrem kleinen Boot verstanden den Wal. Jeder Ton öffnete ihre Herzen ein wenig mehr. Der Wal sang ihnen die Geschichte seines Volkes und berichtete von grauenvollen Morden und blutigem Gemetzel. In ihm waren die Todesmelodien seiner Freunde, Brüder und Schwestern. Aber auch die hoffnungsvollen Gesänge der Überlebenden sowie seine eigene Zuversicht. Jorge und Amina verstanden alles. Sie weinten mit dem Wal, wenn dieser trauerte, und freuten sich mit ihm, wenn seine Flosse sich gewaltig aus den Fluten hob.
    Schon längst hatte die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten, und im Westen färbte sich das undurchsichtige Zinn des Meeres langsam schimmernd rot wie gehämmertes, noch heißes Kupfer. Der Wal hatte seinen Gesang
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