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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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Er war Zunftmeister aller Diebe im Lande des Sultans. Der vermummte Mann trat vor das Tor und musterte aufmerksam die komplizierte und verwirrende Vorrichtung der neunundvierzig Schlösser. Endlich fingerte er einen seltsam gebogenen Draht aus einer Tasche und führte diesen vorsichtig in eines der Schlüssellöcher ein. Behutsam begann er den Draht zu drehen, aber es rührte sich nichts. Der Zunftmeister versuchte es mit allen Schlüsseln und Werkzeugen, die er bei sich trug. Aber weder gebogene Drähte noch kostbare goldene und silberne Schlüssel, weder kleine Zangen noch einige seltene, geheimnisvolle, rostige alte Werkzeuge halfen dem Dieb der Diebe, auch nur eines der neunundvierzig Schlösser zu bewegen. Er rüttelte an dem goldenen Türgriff und versuchte, das Portal mit Gewalt aufzureißen. Nicht einmal einen Finger breit öffnete sich die Tür des Palastes. Mißmutig trat der Zunftmeister aller Diebe zurück zum Sultan: „Ich habe alles versucht, was mir jemals beigebracht worden ist, aber es gibt Schlösser, die selbst mir den Zutritt verwehren.“
    Der Sultan sprach: „Gibt es hier niemanden, der mir diese Schlösser öffnen kann. Wem es auch immer gelingt, er erhält die Hälfte meiner Schatzkammer, mein Lieblingspferd und soll als Wesir zu meiner Rechten sitzen.“ Ein steinalter Zauberer trat vor. Der Bart reichte ihm bis über den Nabel, und die buschigen Augenbrauen verdeckten fast die Augen. Langsam, fortwährend Beschwörungen murmelnd, näherte er sich dem gewaltigen Tor. Nachdem er die Schlösser genau betrachtet hatte, tastete er unter seinen weiten Umhang und holte drei kleine, fest verschlossene Fläschchen hervor. Vorsichtig träufelte er einige Tropfen aus jedem Fläschchen auf die neunundvierzig Schlösser. Zischend und dampfend vermischten sich die Flüssigkeiten. Die Schaulustigen wichen erschrocken einige Schritte zurück. Der Dampf verzog sich, aber an den Schlössern hatte sich nichts verändert. Verärgert warf der Alte einen bösen Fluch gegen die Tür, drehte sich um und verschwand in der Menge.
    „Mein alter Palast und alles, was darin ist, die Hälfte meines Schatzes, mein Lieblingspferd und die Hand meiner Tochter demjenigen, der die Schlösser dieses Tores öffnet“, rief der Sultan.
    Der Lehrer aller Magier schritt zum Tor. Flehentlich hob er die Hände, um den Segen seiner Götter und Geister zu erbitten. Mit magischen Sprüchen rief er sie an seine Seite. Dann befahl er allen ihm dienstbaren Geister, die Schlösser des Tores zu öffnen. Es rumpelte und knirschte in den neunundvierzig Schlössern, aber sonst geschah überhaupt nichts. Auch die Macht des Lehrers aller Magier hatte versagt.
    Drei Hexen traten auf den Sultan zu: „Weißt du, mächtiger Sultan, wir würden es ja gerne versuchen, aber statt deiner Tochter wollen wir deinen erstgeborenen Sohn als Belohnung!“
    In seiner Verzweiflung willigte der Sultan ein, und die Hexen zogen sich zur Beratung und Vorbereitung ihrer Kunst zurück. In der Nacht, als der Mond satt und rund über dem großen Tor hing, kehrten die Hexen zurück. Sie entzündeten ein gewaltiges, wild züngelndes Feuer vor dem Tor. Der Sultan und alle Schaulustigen wichen hastig vor dem Flammenschein des Hexenfeuers zurück. Drei Stunden tanzten die Hexen um das Feuer und sangen Lieder in einer geheimen Sprache. Dann nahm sich jede von ihnen einen noch brennenden Ast. Wie Glühwürmchen sprühten Funken im Wind und geisterten durch das Haar der Hexen, als sich diese dem Tor näherten. Die Flammen konnten ihnen nichts anhaben. Vor dem Tor verbeugten sie sich, wisperten ihren Zauber und berührten mit den glühenden Ästen die neunundvierzig Schlösser. Wieder ächzte, rumpelte und stöhnte es schwer darin. Aber als die Hexen zurücktraten, sahen der Sultan und alle anderen, daß sich nichts am Tor verändert hatte. Wütend warfen die Hexen die glühenden Äste in den Sand: „Wir sind machtlos gegen diese Kunst, eine Tür zu verschließen“, sagten sie zum Sultan, dann verschwanden sie in der Nacht.
    „Gibt es denn hier niemanden, der diese Tür öffnen kann?“ schrie der Sultan in die Menge der Schaulustigen. „Wer das Tor öffnet, dem soll dieser ganze Palast gehören. Ich will ihn nicht mehr!“
    Als nach und nach alle zurücktraten, rannte ein Kind auf das Tor zu. Noch bevor der Sultan oder die Wesire es aufhalten konnten, stellte es sich auf die Zehenspitzen, hangelte sich hoch zum großen goldenen Türgriff, drückte ihn nach unten und
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