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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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selbst.“
    Raman, der Erzähler, legte beide Hände an den Stamm der großen Palme. Das Feuer war fast niedergebrannt. Die Zuhörer verließen einer nach dem anderen den Platz. Nur einer blieb noch. Er war spät gekommen und hatte ein wenig abseits gesessen.
    Er setzte sich nun zu Raman, und beide saßen lange ohne Worte.
    „Ich bin der Mann, der den Stein auf die Palme gedrückt hat“, sagte der Mann. „Ich hatte es vergessen, doch deine Erzählung weckte alles wieder auf. Was soll ich tun? Ich fühle Schuld.“
    „Dann trage diese Schuld wie der Baum den Stein“, antwortete Raman. „Nimm die Schuld an. Versuche, soviel du vermagst, davon in Liebe zu verwandeln. Vergiß dabei nicht, daß Liebe etwas ist, was man tun muß. Es nützt nichts, sie nur zu erkennen und um ihre Notwendigkeit zu wissen. Liebe ist Leben und wächst allein aus dem Tun.“
    Die Männer saßen noch lange unter der Palme, und es war ein leichter Wind, der das Feuer wieder zum Brennen brachte.
     

Roland Kübler
    Das Geheimnis des Türschlosses
     

     
    I n einem fernen Erdteil, weit im Osten, lebte einmal ein reicher und mächtiger Sultan. Kein Feind bedrohte sein Land, und niemand mußte hungern. Der Sultan wäre wohl der glücklichste Mensch gewesen, wenn ihn nicht eine große Sorge Tag und Nacht bedrückt hätte. Er fürchtete sich vor Dieben, Räubern und Mördern, die in seinen Palast eindringen könnten. Aus diesem Grunde beauftragte er einen angesehenen Baumeister, einen Palast mit uneinnehmbaren Mauern zu errichten, dessen einziges Tor mit Schlössern versehen werden sollte, die nur derjenige öffnen kann, der die passenden Schlüssel dazu hat. Der Baumeister plante drei Jahre und danach dauerte es drei mal drei Jahre, bis Palast, Mauern und Tor den Wünschen des Sultans gemäß errichtet worden waren. Als alle Arbeiten beendet waren, betrat der alte Baumeister den neuen Palast und sah sich alles genau an. Nichts war vergessen worden. Die Mauer konnte niemand übersteigen. Das Tor besaß neunundvierzig Schlösser, die keiner öffnen konnte, der nicht im Besitz der richtigen Schlüssel war. Sehr zufrieden ging der Baumeister nach Hause. Er legte sich wie gewohnt schlafen, aber in der Nacht bestimmte der große Geist der Welt, daß seine Uhr jetzt abgelaufen sei.
    Die Kunde vom Tod des berühmten Baumeisters verbreitete sich schnell. Voller Entsetzen ritt der Sultan mit seinen Wesiren vor die Stadt, wo der neue Palast errichtet worden war. Herrlich glänzten die goldenen Kuppeln in der Morgensonne, drohend warfen die hohen Mauern dunkle Schatten in die Wüste, sicher und mächtig stand das große Portal, und die neunundvierzig Schlösser schienen den Sultan und die Wesire zu verspotten.
    „Wir haben schon das ganze Haus des Baumeisters durchsucht. Es sind keine Schlüssel zu finden“, sagten die Wesire zum Sultan. Dieser raufte sich die Barthaare und rief verzweifelt in den Himmel: „Warum konnte der Baumeister nicht wenigstens noch einen Tag länger leben?“
    Die Wesire standen inzwischen vor dem großen, reich verzierten Tor. Niemals zuvor hatten sie solche Schlösser gesehen. Lange überlegten sie, dann sprachen sie: „Herrlicher Sultan, wir können diese Schlösser nicht öffnen — wir sind am Ende unserer Weisheit. Aber wir geben dir einen Rat: Laß überall im Lande verkünden, daß du am Tage des Vollmondes vor dem neuen Palast ein großes Fest geben wirst, und derjenige, der die Schlösser bezwingen kann, soll eine fürstliche Belohnung erhalten.“
    Dem Sultan schien dies ein guter Vorschlag zu sein. Noch am selben Tag ritten die Boten in alle Himmelsrichtungen. In jeder Stadt, in jedem Dorf, bei jeder kleinen Hütte verkündeten sie, was ihnen die Wesire aufgetragen hatten.
    Der Tag des satten Mondes war angebrochen. Schon in aller Frühe drängten sich die Menschen auf dem weiten Platz vor dem neuen Palast. Voller Ehrfurcht bestaunten sie das gewaltige Tor mit den neunundvierzig Schlössern — nach und nach wichen dann fast alle wieder zurück, denn dieser Aufgabe fühlten sie sich doch nicht gewachsen.
    Nur wenige Männer und Frauen blieben nahe dem Tor stehen. Der Sultan trat zu ihnen: „Wer von euch dieses Tor öffnen kann, soll niemals mehr in seinem Leben arm sein. Ich werde ihm ein großes Haus bauen lassen, und ein Viertel meiner Schatzkammer wird ihm gehören.“ Ein Mann trat vor. Sein Gesicht war von einer dunklen Kapuze verdeckt. An seinem Gürtel hingen Schlüssel, seltsam geformte Ringe und Drähte.
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