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Wiener Requiem

Wiener Requiem

Titel: Wiener Requiem
Autoren: J Jones
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geschlossen, um der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, dem vorbeiziehenden Leichenzug ihren Respekt zu erweisen. Der Leichenwagen wurde aufseinem Weg durch die verstopften Straßen Wiens von vier grauen Lipizzanern gezogen und von acht Kutschen voller Blumenschmuck begleitet.
    Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für Anfang Juni. Trotzdem es für Werthen nur eine kurze, angenehme Fahrt im Fiaker gewesen war, sammelte sich der Schweiß an seinem hohen gestärkten Kragen; sein schwarzer Wollmantel saugte die Sonnenstrahlen förmlich auf. Er konnte die unangenehme Lage der Pilger, die diesen Weg zu Fuß hinter sich gebracht hatten, nur zu gut nachvollziehen. Viele Staatsdiener, Künstler, Musiker und Gelehrte und selbst der eine oder andere Kritiker trotteten hinter den Kutschen her.
    Der Anblick des Leichenzuges erinnerte Werthen an ein anderes Begräbnis im letzten September. Das Begräbnis der Kaiserin Elisabeth, die in Zürich einem grausamen Attentat zum Opfer gefallen war. Bei diesem Gedanken fühlte er ein Stechen in seinem Knie, denn ihr Tod und seine Verletzung waren unauflösbar miteinander verbunden.
    Er kehrte mit seinen Gedanken wieder zu den Geschehnissen des Tages zurück. Die Menschen drängelten; jeder versuchte, eine gute Sicht auf das Grab zu erlangen. Ein alter und sehr kleiner Mann, der den Weg gewiss nicht zu Fuß hinter sich gebracht hatte, drängte sich direkt vor Werthen, so dass sein ebenso unkonventioneller wie unmöglich hoher Hut ihm die Aussicht vollkommen versperrte.
    Da Werthen auf beiden Seiten dicht von anderen Trauernden eingeschlossen war, blieb ihm nichts, als dem alten Herrn auf die Schulter zu tippen.
    Ein rotes Gesicht mit stark geäderter Nase wandte sich ihm herausfordernd zu.
    »Entschuldigung. Vielleicht könnten Sie Ihren Hut absetzen, so dass auch ich etwas sehen kann.«
    »Unsinn«, stieß der Mann entrüstet hervor und wandte sich wieder dem Grab zu. Werthen bemühte sich an dem glänzenden schwarzen Hut vorbeizuspähen. Gerade erklomm Karl Lueger die improvisierte Rednerbühne. Dieser Mann war eine Wiener Legende, berühmt für sein gutes Aussehen sowie sein demagogisches Talent. Werthen war kurz davor, den verdammten Hut vor ihm platt zu schlagen, um eine gute Sicht auf den Bürgermeister zu erhalten, der nun seine Rede begann. Er verstand selbst nicht, weshalb dieser Judenhasser von einem Bürgermeister ihn so beeindruckte. Aber wie fast alle Wiener war auch Werthen fasziniert von Luegers rhetorischen Fähigkeiten, seiner Ausstrahlung und seinem Charisma. Man musste zugeben, dass der Mann seine antisemitische Rhetorik etwas gezügelt hatte, seit er im Amt war, und nun nicht länger versuchte, die Juden für jedes Unglück des Kaiserreiches verantwortlich zu machen.
    Er hatte verschiedene städtische Großprojekte angeschoben; so kümmerte er sich um die Regulierung der Donau und die Fertigstellung der Stadtbahn.
    Die Menge verstummte. Werthen spähte an der schwarzen Hutsäule vor ihm vorbei und erblickte plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite des Grabes seinen alten Freund und Klienten, den Maler Gustav Klimt. Klimt zwinkerte ihm zu.
    Der Maler war zwar kein Riese – aber dafür fast so breit wie lang –, dennoch überragte er deutlich den vor ihm stehenden Mann. In der kleinen Gestalt erkannte Werthen den Dirigenten der Wiener Hofoper, Gustav Mahler. Nie hatte ein jüngerer Mann diesen Posten innegehabt; Mahler war erst siebenunddreißiggewesen, als er vor zwei Jahren nach Wien gekommen war. Die beiden mussten den Weg zu Fuß zurückgelegt haben, aber Klimt, einem begeisterten Wanderer, war dies nicht anzumerken. Werthen fragte sich, wann Klimt wohl seine lange überfälligen Rechnungen begleichen würde. Dann suchte er mit seinen Blicken nach engen Familienangehörigen am Grab, aber es waren dort nur entfernte Verwandte zu sehen. Als ausgesprochen seltsam empfand Werthen vor allem das Fehlen der Witwe des Mannes, Adele, und das Fehlen seines Bruders.
    »Meine Freunde«, begann Bürgermeister Lueger mit dröhnender Stimme. »Wir haben uns hier zu einem sehr feierlichen Anlass zusammengefunden. Abertausende von Wienern säumten die Wege unseres Trauermarsches zur letzten Ruhestätte, um unserem geliebten Maestro die Ehre zu erweisen. Die Wiener Bürger, die sich den heutigen Tag frei nahmen, weder zur Arbeit noch zur Schule gingen, empfanden in ihrem Inneren dasselbe wie wir, die wir hier versammelt sind – eine tiefe, zu Herzen gehende Traurigkeit
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