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Wiener Requiem

Wiener Requiem

Titel: Wiener Requiem
Autoren: J Jones
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Respekt erweisen durch seine Anwesenheit am Grab. Sein bei einem Duell verletztes Knie verhinderte jedoch, dass er die Wallfahrt von gut drei Kilometern, vom Wiener Stadtzentrum hinaus auf den Zentralfriedhof in Simmering – dem kürzlich eingemeindeten 11. Bezirk –, zu Fuß unternehmen würde wie Hunderte anderer Würdenträger.
    Ein Duell! Mein Gott, wie unbekümmert er nun daran denken konnte und wie unwahrscheinlich ihm dies nur wenige Monate zuvor erschienen war. Es war ihm so fremd wie Suaheli; eine Abweichung von seinem gesetzten, bürgerlichen Alltag, so unvorstellbar, wie es eine höfliche Salonplauderei im Leben eines Buschmannes gewesen wäre.
    Ein Duell mit Worten, ein verbales Feuerwerk für einen leicht zu unterhaltenden Richter, ja, das gehörte zu seinem Metier. Aber keinesfalls ein Duell auf Leben und Tod. Nicht diese Körperwärme des Gegners, die man spürte, wenn man, vor den vorgeschriebenen fünfzehn Schritten, noch Rücken an Rücken stand. Nicht dieses Gefühl des kalten Stahls in seinen Händen. Eine solche Exzentrizität kannte man nicht von Karl Werthen, dem Notar für Testamente und Treuhandangelegenheiten!
    Aber er hatte es getan. Und er hatte so gut geschossen, dass der Schädel seines Gegners wie ein Kürbis zerbarst und sich an diesem eiskalten Frühlingsmorgen purpurrotes Blut über die Wiesen des Praters ergoss. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, um sich selbst, seine Freunde und seine geliebte Frau von einem Mann zu befreien, der sie alle eines Tages hatte töten wollen.
    Werthen schob die bösen Erinnerungen an die brutale Tat beiseite und suchte sich einen Platz in möglichst großer Nähe zum frisch ausgehobenen Grab in der Sektion 32A, Nummer 27. Es lag genau zwischen den letzten Ruhestätten von Franz Schubert und Johannes Brahms. Fast alle Gräber des Zentralfriedhofs waren schon belegt, obwohl er erst vor fünfundzwanzig Jahren eröffnet worden war. Der Friedhof maß 200 Hektar, und schon bald werden die Mieten hier weit überhöht sein, sinnierte Werthen. Der Friedhof war zwar nur halb so groß wie Zürich, aber doppelt so lustig, witzelten die Wiener.
    In der Sektion 32 A lagen alle Berühmtheiten der Musikgeschichte. Sowohl die, die nach der Eröffnung des Friedhofes im Jahr 1875 gestorben waren, wie Brahms und Anton Bruckner, aber auch die Toten der vorangegangenen Epoche wie Gluck, Beethoven und Schubert, deren sterbliche Überreste exhumiert worden waren, um hier 1880 erneut bestattet zu werden. Es fehlten lediglich Haydn, der in Eisenstadt begraben lag, sowie auch der arme Teufel Mozart, dessen Gebeine unauffindbar geblieben waren.
    Für Werthen würde dies sicher nicht die letzte Ruhestätte werden. Nein, seine Gebeine würden in der jüdischen Parzelle, nahe dem Tor 1, vermodern.
    Pflichtbewusst saß Werthen an diesem Morgen in seinerKanzlei in der Habsburgergasse, als eine gewaltige Trauergemeinde, die in die nahegelegene Episkopalkirche strömte, ihn an das Begräbnis erinnerte. Was soll’s, dachte er. Ein Ausflug. Ein Zeichen des Respekts für den großen Meister. Er teilte seinem Assistenten Doktor Wilfried Ungar mit, dass er kurz nach dem Mittagessen zurück sein würde, und verließ die Kanzlei, bevor der selbstgefällige junge Mann eine Bemerkung dazu machen konnte. Ungar war so einer, der mit seinem doppelten Universitätsabschluss in Jura und Wirtschaft protzte; selbst seine engen Freunde nannten ihn nur Doktor Doktor Ungar. Aber Werthen konnte sich nicht beklagen. Der junge Mitarbeiter hatte die Praxis in den vergangenen Monaten über Wasser gehalten, als Werthen sich von seinen Verletzungen, die er sich bei dem Duell zugezogen hatte, langsam erholte und darüber nachsann, was er mit seinem Leben nun anfangen wollte. So im Bett liegend, hatte er sich wieder wie ein Heranwachsender gefühlt, der den großen Fragen nach der Karriere und dem Sinn des Lebens nachhing. Mit einer Kugel im Körper konnte man sich wunderbar auf das Wichtigste im Leben konzentrieren. Eigentlich hatte er seine Seele nicht wirklich prüfen müssen: Seine Karriere hatte im Strafrecht begonnen, bevor er in das erhabenere Feld der Testamente und des Treuhandels gewechselt war. Nun, so wusste er, musste er auf die eine oder andere Weise zu seiner ersten Berufung zurückkehren.
    Erst jetzt erreichte die Trauergemeinde nach einem langen Marsch den Friedhof. Wiewohl es die Mittagsstunde war, wurde die gesamte Strecke durch brennende Gasleuchten markiert. Geschäfte und Schulen blieben
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