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Wie Samt auf meiner Haut

Wie Samt auf meiner Haut

Titel: Wie Samt auf meiner Haut
Autoren: Kat Martin
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Vergeltung.
    »Helfen Sie
einem alten Mann, Lady«, hörte sie den Singsang des Bettlers. »Ein Münze oder
zwei für einen Bissen Essen.«
    Als sie
ihren verebbenden Zorn von neuem entfachen wollte, glitt ihr Blick zu Jason,
und in ihrer Kehle stauten sich Tränen, obwohl sie geglaubt hatte, sie würde
nie wieder weinen können. Aber nun wischte sie sich die Tränen von den Wangen,
faßte in ihre Rocktasche und zog einen kleinen Geldbeutel heraus, dem sie eine
Münze entnahm und in den Napf des Alten warf, wo sie scheppernd landete.
    »Dank
Ihnen, Mylady.« Er richtete sich auf, war plötzlich größer, als es den Anschein
gehabt hatte, und dabei so mager, daß die Knochen durch seinen ärmlichen Kittel
hervortraten. Er warf die schmierige Haarlocke zurück. »Sie haben ein so gutes
Herz wie Ihr Mann, Mylady. Der gab mir stets eine Münze, wenn er ins Wirtshaus
ging. Nicht wie sein Bruder, der immer schon anders war. Ich war es, der die
beiden sah, Mylady, und ich schickte Ihnen die Botschaft. Es war der Jüngere,
der es tat, der jüngere Sohn, der den alten Herzog in jener Nacht tötete.«
    Momentan
erstarrte Velvet, dann geriet sie ins Schwanken und fürchtete schon, in einem
Schwächeanfall zu Boden zu sinken, da ihre Knie zitterten und ihr Mund
plötzlich wie ausgetrocknet war. »Du hast ihn gesehen? Wie kommt das? Du bist
doch blind.«
    »Blind auf
einem Auge, meine Liebe, nicht auf beiden.«
    »O Gott.«
Die Hand des Alten ergreifend, stürzte sie vor, halb in Erwartung, er würde
sich wehren und sich losreißen, doch er stakste hinter ihr her, während sie
unbeirrt auf die Stufen zuhielt und sich durch die Menschenmenge zum Galgengerüst
auf der Anhöhe durchkämpfte. Taschendiebe, Halsabschneider, Diebe und Huren
wichen bei ihrem Ansturm zurück und gaben ihr den Weg frei.
    »Aus dem
Weg!« rief sie laut. »Ich muß durch!« Ihr durchdringender Ton bewirkte, daß
der Pfad sich noch schneller öffnete. Laufend, stolpernd und keuchend zerrte
Velvet den Alten mit sich, während sie darum betete, noch rechtzeitig
anzukommen und durch die Aussage des Mannes einen Aufschub zu erwirken.
    Wieder war
Zeit ausschlaggebend. Schon diese kleine Gnadenfrist war mehr, als sie zu
erhoffen wagte.
    Das Wort
eines Bettlers gegen das eines Herzogs.
    Es war
reiner Wahnsinn, dennoch stürmte sie unbeirrt weiter, aufkeimende Hoffnung im
Herzen. Sie wollte sie unterdrücken, vergebens, denn sie wußte mit
schrecklicher Gewißheit, daß diese Hoffnung mit Jason sterben würde.
    Sie sah,
wie man ihm auf dem Gerüst die Schlinge um den Hals legte. Ohne Kapuze stellte
er sich der Menge mit der schlichten Würde eines echten Duke of Carlyle.
    »Aufhören!«
rief Velvet. »Sofort aufhören!« Aber sie war noch zu weit entfernt, und die
Schaulustigen zu laut, als daß der Henker sie hätte hören können, der
vielleicht auch nicht innegehalten hätte, wenn er ihren verzweifelten Ausruf
vernommen hätte.
    Velvets
Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet. Bei jedem Schritt flehte sie um
himmlische Hilfe. Er ist unschuldig. Er ist ein guter Mensch. Bitte, so
hilf ihm doch. Fast war sie am Ziel, hatte nahezu die Anhöhe erreicht. Die
Menschen waren bis auf ein leises Raunen verstummt, gebannt von dem Moment des
Todes, dessen Augenzeugen sie werden sollten. Der Henker prüfte das Seil um
Jasons Nacken.
    Velvet
öffnete den Mund zu einem Schrei, als eine füllige Frau mit umgebundener
Schürze ihr in den Weg trat und mit erstaunlicher Wucht mit ihr zusammenstieß,
so daß beide stürzten und in einem Durcheinander von Gliedmaßen, scharfen
Steinen und Staub auf dem Boden landeten. Ohne den Flüchen der Frau und dem
Schmerz in ihrem Bein Beachtung zu schenken, raffte Velvet sich auf und
humpelte weiter, den Bettler an seinem mageren Arm nach wie vor hinter sich
herzerrend.
    Herr im
Himmel, sie würde zu spät kommen!
    Der
Schatten einer Bewegung huschte dunkel am Rand ihres Gesichtsfeldes vorüber.
Ein Mann, der in schnellem Lauf auf das Gerüst zuhielt. Lucien, der zwei Stufen
auf einmal nahm und oben ankam, als der Henker den Block unter Jasons Füßen
wegstieß.
    »Neiiin!«
schrie sie auf, von einer Woge der Qual erfaßt, von einem so tiefen Schmerz,
daß ihr schwarz vor Augen wurde. Aber Lucien hielt nicht inne, sondern
schnellte mit einem Satz vor und bekam Jasons Füße zu fassen, ehe der Strick
sich gestrafft hatte.
    »Gott im
Himmel ...« Die Tränen stürzten ihr ungehemmt über die Wangen.
    Andere
drängten sich nach vorn durch.
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