Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
Vom Netzwerk:
hinzu, die damit zu tun hat, dass man über ein Buch jede Meinung äußern kann. Diese zweite Übertretung ist eine Variante der ersten: Wenn es überhaupt keinen Sinn hat, ein Buch aufzuschlagen, um darüber zu reden, dann, weil sämtliche Meinungen möglich und belegbar sind und weil das Buch, wenn es auf einen bloßen Gesprächsanlass reduziert wird, in gewisser Weise aufhört zu existieren.
    ∗
    Diese doppelte Übertretung ist Zeichen eines allgemeinen Verfalls, bei dem ein Buch oder ein Urteil so viel wert ist wie jedes andere, da alle Meinungen immer nur vorläufig sind. Aber die Beweisführung, die Luciens Freunde hier unternehmen, lässt, auch wenn sie etwas sophistisch anmuten mag, durchaus bestimmte Wahrheiten über das Lesen und unsere Gespräche darüber durchscheinen.
    Die Haltung Lousteaus und Blondets, die Lucien zum Verfassen der widersprüchlichen Artikel ermutigen, wäre schockierend, wenn es sich in den beiden Artikeln um
dasselbeBuch
handeln würde. Balzac aber suggeriert hier, dass es in den beiden Fällen nicht ganz miteinander vergleichbar ist. Zwar bleibt das materielle Buch mit sich selbst identisch, doch es stellt, sobald sich die Stellung Nathans im sozialen Raum verändert, nicht mehr denselben Bezugspunkt dar. Und auch bei Luciens
Margeriten
handelt es sich, hat der Autor erst eine gewisse soziale Stellung erlangt, nicht mehr um genau dieselbe Gedichtsammlung.
    In keinem der beiden Fälle verwandelt das Buch sich im materiellen Sinne, ist jedoch als Element der kollektiven Bibliothek Veränderungen unterworfen. Balzac lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Kontextes, indem er diese Bedeutung zwar überzeichnet, damit aber seine bestimmenden Elemente umso deutlicher macht. Wenn man sein Interesse auf den Kontext richtet, so ruft man sich damit in Erinnerung, dass ein Buch nicht ein für alle Mal festgelegt ist, sondern einen wandelbaren Gegenstand darstellt, und dass diese Wandelbarkeit zum Teil den Machtbeziehungen geschuldet ist, die in seinem Umfeld im Spiel sind.
    Wenn der Autor sich verändert und das Buch nicht mit sich selbst identisch bleibt, kann man dann wenigstens sagen, dass wir es mit demselben Leser zu tun haben? Nichts ist weniger sicher, wenn man sieht, wie schnell Lucien seine Meinung über Nathans Buch nach Lousteaus Kommentar ändert:
    »Lucien war verblüfft, als er Lousteau sprechen hörte: Bei den Worten des Journalisten fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, er entdeckte literarische Weisheiten, die er nicht einmal vermutet hatte.
    ›Aber was du mir da sagst‹, rief er, ›ist vollkommen vernünftig und richtig.‹
    ›Könntest du sonst Nathans Buch widerlegen?‹ sagte Lousteau.«
    Es braucht nur ein kurzes Gespräch mit Lousteau, damit Lucien sich eine andere Meinung über Nathans Buch bildet, und zwar ohne noch einmal einen Blick hineinzuwerfen. Es geht also nicht um das Buch als solches – da Lucien nicht wissen kann, was er empfinden würde, wenn er es noch einmal läse –, sondern um das, was im sozialen Umfeld darüber gesprochen wird. Und er hat sich diese neue Meinung so sehr zu eigen gemacht, dass er sie kaum mehr zu ändern vermag, als Lousteau ihm vorschlägt, einen zweiten, diesmal lobenden Artikel zu verfassen, und lieber darauf verzichtet mit der Begründung, er sei unfähig, jetzt zwei anerkennende Worte zustande zu bringen. Die Worte seiner Freunde stimmen ihn jedoch um und rufen ihm wieder seine ersten Empfindungen in Erinnerung:
    »Am nächsten Morgen zeigte es sich, daß die Saat vom Vortage in seinem Kopf aufgegangen war, wie es bei allen kraftvollen Geistern geschieht, deren Fähigkeiten noch wenig beansprucht worden sind. Lucien verspürte Freude dabei, diesen neuen Artikel auszuarbeiten, er machte sich mit Hingabe daran. Unter seiner Feder begegneten sich die Reize, die aus dem Widerspruch hervorgehen. Er war geistvoll und spöttisch, er erhob sich sogar zu neuen Betrachtungen über das Gefühl, die Idee und das Bild in der Literatur. Mit Geschick und List fander, um Nathan zu loben, zu seinen ersten Eindrücken bei der Lektüre […] zurück.«[ 19 ]
    Sodass man sich fragen kann, ob Luciens Angst sich vielleicht weniger auf die Wandlungsfähigkeit des Buches als auf seine eigene innere Unbeständigkeit bezieht, die er nach und nach entdeckt. Er kann die verschiedenen geistigen und psychischen Positionen, die ihm Blondet vorschlägt, völlig unbeschadet einnehmen, nacheinander und vielleicht sogar gleichzeitig. Weniger die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher