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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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Diskussionen mit meinen Kollegen einschätzen zu können, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht, wenn sie über ihn reden, und auch, um zu wissen, dass dies nur selten der Fall ist.
    Man belügt die anderen, aber auch und wahrscheinlich in erster Linie sich selbst, weil es manchmal äußerst schwerfällt, sich einzugestehen, dass man ein bestimmtes, in den Kreisen, in denen man verkehrt, als wesentlich eingestuftes Buch nicht gelesen hat. Und dementsprechend groß ist in diesem wie in vielen anderen Bereichen unsere Fähigkeit, die Vergangenheit unseren Wünschen entsprechend etwas zurechtzurücken.
    Dieses allgemeine Lügen, sobald man über Bücher spricht, ist ein weiterer Aspekt des Tabus, das auf dem Nichtlesen lastet und mit Ängsten zu tun hat, die wahrscheinlich aus unserer Kindheit stammen. Es besteht kaum Hoffnung, unbeschadet aus Situationen dieser Art hervorzugehen, wenn man nicht das unbewusste Schuldgefühl analysiert, das mit dem Geständnis einhergeht, gewisse Bücher nicht gelesen zu haben. Dieser Essay möchte sich zur Aufgabe machen, unser Gewissen wenigstens etwas zu entlasten.
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    Das Nachdenken über nicht gelesene Bücher und die Gespräche, die sich daraus ergeben, gestalten sich umso schwieriger, als sich der Begriff des Nichtlesens nicht klar definieren lässt und es also gelegentlich gar nicht so einfach ist zu wissen, ob man mit der Behauptung, ein Buch gelesen zu haben, lügt oder die Wahrheit sagt. Denn dies würde voraussetzen,dass man klar zwischen Lesen und Nichtlesen unterscheiden kann, während sich doch zahlreiche Begegnungsformen mit Texten in Wirklichkeit in einem Zwischenbereich abspielen.
    Zwischen einem aufmerksam gelesenen Buch und einem Buch, das man noch nie in der Hand gehabt hat, ja, von dem man noch nie gehört hat, gibt es zahlreiche Stufen, die sorgfältig zu untersuchen sind. Bei den angeblich gelesenen Büchern müssen wir uns fragen, was genau man unter Lektüre versteht, kann diese doch in Wirklichkeit sehr unterschiedliche Praktiken bezeichnen. Umgekehrt können viele dem Anschein nach nicht gelesene Bücher durch das Echo, das zu uns gelangt, spürbaren Einfluss auf uns ausüben.
    Das Problem der Grenzziehung zwischen Lesen und Nichtlesen zwingt mich, etwas allgemeiner über die Formen unseres Umgangs mit Büchern nachzudenken. Mein Ziel ist im Folgenden nicht nur, Methoden zu entwickeln, mit denen schwierige Kommunikationssituationen vermieden werden können, sondern durch eine Analyse dieser Situationen zugleich die Elemente einer echten Theorie des Lesens auszuarbeiten – einer Theorie des Lesens, die ihr Augenmerk – entgegen dem Idealbild, das von dieser Tätigkeit kursiert – auf die Schwachstellen, Lücken und Ungenauigkeiten richtet, also auf seine Diskontinuität.
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    Diese wenigen Vorbemerkungen führen uns folgerichtig zum Aufbau dieses Essays. Ich werde in einem ersten Teil die Haupttypen des Nichtlesens darlegen, das sich alsokeineswegs auf die simple Tatsache beschränkt, die Buchdeckel geschlossen zu halten. Auch Bücher, die man quergelesen hat, Bücher, von denen man gehört oder die man vergessen hat, gehören, in unterschiedlichen Graden, zu dieser äußerst vielgestaltigen Kategorie des Nichtlesens.
    Ein zweiter Teil ist der Analyse konkreter Situationen gewidmet, in denen von uns erwartet wird, über Bücher zu sprechen, die wir nicht gelesen haben. Wenn es hier auch nicht darum gehen kann, die vielen Möglichkeiten, mit denen das Leben uns so grausam konfrontiert, erschöpfend darzustellen, so will ich doch anhand einiger bezeichnender Beispiele – die gelegentlich in verdeckter Form meiner persönlichen Erfahrung entlehnt sind – Ähnlichkeiten aufdecken, auf die sich meine weiteren Ausführungen dann stützen können.
    Der dritte und wichtigste Teil ist derjenige, der mich zum Schreiben dieses Essays angeregt hat. Er besteht aus einer Reihe einfacher Ratschläge, erworben im Laufe eines langen Lebens als Nichtleser. Mit diesen Ratschlägen möchte ich den Betroffenen helfen, so gut wie möglich mit diesem Kommunikationsproblem umzugehen – es sich vielleicht sogar zunutze zu machen – und dabei grundlegend über die Tätigkeit des Lesens nachzudenken.
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    Mit diesen Bemerkungen aber möchte ich nicht nur die allgemeine Struktur dieses Essays umreißen, sondern auch hellhörig machen für das eigenartige Verhältnis zur Wahrheit, das mit den Gesprächen über Bücher verbunden ist, und für den seltsamen Raum, den es eröffnet.
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